Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Lettland: Ombudsmann Juris Jansons beklagt die soziale Spaltung
03.11.2016


"Lettlands größtes Problem ist die Armut"

Bettlerin in der Rigaer AltstadtLettlands Regierung knausert bei Sozialausgaben und das hat Folgen. Der Spalt zwischen Begüterten und Mittellosen ist klaffender als in anderen EU-Staaten. Fast ein Drittel der Einwohner Lettlands ist arm oder armutsgefährdet. Jansons, der staatliche beauftragte Anwalt für Menschen- und Bürgerrechte, prangerte in den letzten Wochen in offenen Briefen und Interviews die kümmerliche lettische Sozialpolitik an. Der Saeima und der Regierung schrieb Jansons am 17.10.2016: "Da ich Jahr für Jahr die Lage der Einwohner wahrnehme und die Inhalte ihrer Eingaben auswerte, komme ich zu einem bitteren Ergebnis - Lettlands größtes Problem ist die Armut. Eine Armut, die der größte Teil der Bevölkerung nicht selbst verschuldet hat." Armut lässt sich mit politischen Losungen wie der Appell an die "Eigenverantwortung" nicht verhindern. Jansons warnt, dass auch jene Menschen bedroht seien, die arbeitswillig und lernbereit sind, auf ihre Gesundheit achten und ehrlich Steuern zahlen. "Mich beunruhigt das Schicksal der Einwohner, die für sich, andere und ihrem Land verantwortlich gehandelt haben, nur wegen unglücklicher Umstände in eine schwierige Situation gerieten. Es ist erschütternd, dass häufig gerade jene Personen betroffen sind, welche gemäß internationaler Menschenrechtsstandards besonderen staatlichen Schutz genießen, unter den genannten die am wenigsten abgesicherten Einwohner: Kinder, alte Menschen, Invalide, arbeitende Frauen in der Zeit der Mutterschaft, unvollständige Familien, Obdachsuchende."

Bettlerin in der Rigaer Altstadt, dort ist das Betten mittlerweile verboten, Foto: LP

 

Kaum Engagement für soziale Sicherheit

Jansons beruft sich auf Paragraphen in internationalen Abkommen der UNO, der EU, aber auch auf die lettische Verfassung, um zu belegen, dass soziale Sicherheit ein Bestandteil der Menschenrechte ist. Der Ombudsman nennt Zahlen eines Arbeitspapiers der EU-Kommission vom Februar dieses Jahres. Lettische Politiker kümmern sich zu wenig um die soziale Absicherung ihrer Bürger: 2013 betrug der Anteil der Sozialleistungen am BIP 14 Prozent - das war der niedrigste Anteil im EU-Vergleich. Auch die Ausgaben zur Vermeidung von Armut liegen mit 0,1 Prozent vom BIP weit unter dem EU-Durchschnitt von 0,5 Prozent. Außerdem beklagt der Jurist die dezentralisierte Finanzierung: Die Kommunen müssen für Sozialausgaben aufkommen. Reichere Gemeinden können ihre Bürger besser unterstützen als ärmere, das verschärfe die regionale Ungleichheit. Die Leistungen reichten nicht aus, um den Empfängern die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die EU-Kommission erhoffe sich Besserung, weil die Regierung plane, für 2017 ein garantiertes Mindesteinkommen festzulegen. Doch Jansons bleibt skeptisch, denn dafür sehe der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr keine Ausgaben vor.

Juris Jansons` Mängelliste:

  • 606000 Einwohner, 31 Prozent der lettischen Bevölkerung, sind von Armut und sozialem Abstieg bedroht.

  • In Lettland sind die Unterschiede zwischen wohlhabenden und armen Einkommensbeziehern größer als in den meisten anderen EU-Ländern. 2012 bezogen die wohlhabendsten 10 Prozent der Einkommensbezieher 26 Prozent der Einkünfte. Nur Bulgarien weist größere Differenzen auf.

  • 322000 Rentner, das sind 70 Prozent, erhalten eine Rente von maximal 300 Euro. Damit ist die Gefahr der Altersarmut in Lettland beträchtlich.

  • Frauen im Rentenalter sind besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Der Anteil armer Rentnerinnen beträgt 47 Prozent, bei alleinstehenden 67 Prozent.

  • 9 Prozent der Beschäftigten erhalten den Mindestlohn, von dem netto monatlich nur 270 Euro übrigbleiben.

  • Jansons beklagt zudem die regionalen Unterschiede: In der ostlettischen Region Lettgallen sind 40 Prozent der Bevölkerung arm, in Riga nur 13 Prozent.

  • Die lettischen Bürger sind mit der medizinischen Versorgung unzufriedener als Bürger anderer EU-Länder. Der Zugang zu Praxen und Kliniken ist beschränkt. Jeder fünfte Einwohner scheut im Bedarfsfall den Gang zum Arzt.

  • Die Zahl der Invaliden steigt in letzter Zeit merkbar an.

  • Von 23 Flüchtlingen, die Lettland im Rahmen des EU-Verteilungsprogramms aufnahm und eine Aufenthaltsgenehmigung erteilte, haben 21 Lettland vorzeitig verlassen. [Sie alle reisten nach Deutschland. Inzwischen haben auch die letzten beiden, ein eritreisches Paar, Lettland verlassen].

 

Diskussionen ohne Ergebnis

Am 2.11.2016 nahm Jansons an einer Sitzung der Saeima-Kommission für Soziales und Beschäftigung teil. Laut delfi.lv wiederholte er Zahlen und Fakten, kritisierte Diskussionen, den Mindestlohn monatlich um 10 Euro zu erhöhen. Mit solchen Minimalbeträgen richte man mehr Schaden als Nutzen an. Damit lasse sich Armut nicht beseitigen. Ihn erinnern solche Vorschläge an sowjetische Zeiten, als marxistische Ideologie die Wirklichkeit verklärte. Seit 2015 stecke die Regierung fest bei der Aufgabe, ein Konzept zur sozialen Sicherheit auszuarbeiten. Ergebnisse seien frühestens 2019 zu erwarten. Die Mitglieder der Saeima-Kommission diskutierten zwei Stunden lang mit dem Ombudsmann. Kurzfristige Lösungen sind nicht in Sicht, man will weiter diskutieren. Vor dem Parlament und einzelnen Ministerien protestierten in diesem Herbst Angestellte aus medizinischen Berufen und in dieser Woche demonstrierten Studierende. Sie und viele andere beklagen die zu geringe staatliche Finanzierung. Die Regierung darf sich wegen des EU-Fiskalpakts kaum verschulden. Sie will Investoren anlocken und besteuert deshalb Kapital und Unternehmen nur gering. Da bleibt kaum Geld, um einen leistungsfähigen Sozialstaat aufzubauen. Im derzeit debattierten Haushaltsentwurf sind keine nennenswerten Steigerungen für Soziales und Gesundheit vorgesehen. Junge Menschen haben weiter Grund, sich anderswo nach besseren Lebensverhältnissen umzuschauen. Lettland verlor nach Angaben der EU-Kommission in den letzten zehn Jahren 15 Prozent seiner erwerbsfähigen Bevölkerung, durch Geburtenrückgang und Emigration. 40 Prozent der Emigranten waren 20 bis 35jährige.

 

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