Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Der lettische Staatshaushalt 2017
24.11.2016


Von Mehrausgaben für Militär und Gesundheit, Sozis, die sich um die zu hohe Steuerlast für Millionäre sorgen und einem Saeima-Basar, der dem `Oligarchen von Ventspils` zugute kommt

Lettische SaeimaDie lettischen Parlamentarier begannen am 23.11.2016 um 9 Uhr. Sie debattierten ununterbrochen, um nach 22 Stunden dem Budgetentwurf der Regierung mit 59 gegen 36 Stimmen zu genehmigen. Nach der Marathonsitzung folgte am Ende die Abstimmung über drei neue Gesetze und 54 Gesetzesänderungen. Für 2017 plant das Ministerkabinett, etwa 8 Milliarden Euro (664 Millionen mehr als 2016) einzunehmen und 8,4 Milliarden (680 Millionen mehr) auszugeben. Regierung und Parlament sind in Haushaltsfragen nicht völlig souverän. Mit dem geplanten Defizit ist die EU-Kommission einverstanden. Mehr Geld gibt es vor allem für das Militär, 98 Millionen Euro mehr als in diesem Jahr. Damit erreicht der Anteil der Militärausgaben am BIP 2017 voraussichtlich 1,7 Prozent, bis 2018 soll er auf 2 Prozent gesteigert werden. Das ist der Anteil, den die Nato von ihren Mitgliedstaaten fordert, der aber bislang nur von wenigen Ländern erreicht wird. Die Gesundheitsministerin Anda ?akša erhält den zweitgrößten Zuwachs. Sie darf im nächsten Jahr 64 Millionen Euro mehr ausgeben. Dennoch ändert das kaum etwas an der Unterfinanzierung. Lettland gehört im Hinblick auf gesundheitliche Versorgung weiterhin zu den EU-Schlusslichtern. Für die problematische Bevölkerungsentwicklung - mehr Menschen sterben als geboren werden, mehr Einwohner emigrieren als immigrieren - bleibt nur eine Budgeterhöhung von 19 Millionen Euro. Die Regierung sieht einige Verbesserungen vor: U.a. soll der monatliche Brutto-Mindestlohn auf 380 Euro ansteigen (davon muss man Sozialabgaben und Einkommens-Flattax abziehen). Das sind 10 Euro mehr als bisher. Familien sollen ab dem vierten Kind monatlich 50,07 statt 34,14 Euro Unterstützung erhalten. Andererseits wird die Frist verlängert, die Arbeitnehmer beschäftigt sein müssen, um den Anspruch auf zeitlich begrenztes Arbeitslosengeld zu erwerben. Für Ministerpräsident M?ris Ku?inskis (Union der Grünen und Bauern, ZZS) ist dieser Etat ein Schritt in die richtige Richtung. Kritiker bezweifeln hingegen, ob das Geld reicht, um die Situation sozial Benachteiligter wesentlich zu verbessern.

Lettische Parlamentarier trafen sich zur Marathonsitzung, Foto: Reinis Ink?ns, Saeimas Administr?cija

 

Sozis unterstützten Steuernachlass für Millionäre

Ku?inskis kommentierte den Haushaltsplan seiner Koalition: "Dieses Budget ist für schrille Metaphorik nicht geeignet, seine geistige Basis sind die Stärken der Koalitionspartner sowie die Kraft, Kompromisse zu finden, der Wunsch, den ersten Schritt in Richtung radikaler Reformen in vielen Bereichen zu tun. Gehen wir dorthin, wo wir noch nicht waren, denn im Stillstand stecken bleiben ist aberwitzig. Machen wir den ersten Schritt gemeinsam," zitiert irlv.lv den Ministerpräsidenten. Andrejs Klementjevs, Abgeordneter der Saska?a, der größten Oppositionspartei, wertet die Mehrausgaben für Gesundheit und Familien positiv. Aber für die Armen im Lande sieht er keine Besserungen: "Klar, dass Rentner und sozial Benachteiligte darauf warten, dass Geld aufgewendet wird, um die Armutsrisiken zu verringen. Nichts von alledem," meinte er im Interview mit der LTV-Sendung R?ta Panorama. Dagegen sei die gesamte Opposition über die neuen Steuern schockiert, die nicht angekündigt worden seien. Auch die Steuerlast für Arbeitnehmer verringere sich nicht. Zudem fordere seine Partei den Staatspräsidenten auf, das Gesetz nicht zu unterschreiben, das den Bezug von Arbeitslosengeld erschwert. Schließlich verhedderte sich der Politiker der sozialdemokratischen Saska?a in abwegigen Argumenten, als er versuchte, das Verhalten einiger Fraktionskollegen zu verteidigen. Die Journalisten fragten, weshalb einige Saska?a-Abgeordnete den Vorschlag M?rti?š Bondars`, Vorsitzender der neoliberalen Partei Allianz der Regionen, unterstützt hätten, Millionären die Einkommenssteuer zu vermindern - sie bezahlen bislang wie alle anderen den Einheitssteuersatz von 23 Prozent. Seine bizarre Antwort lautete: "Nicht alle Vorschläge sind gut durchdacht worden... Klar, dass wir M?rti?š als Kollegen in der Opposition unterstützten. Klar, dass wir recht gut wissen, dass wir nicht so viele von den reichen Leuten haben, um speziell für sie irgendwelchen Steuernachlass auszuklügeln." Die sich als "Linke" propagierende Saska?a als Parteigänger von Trickle-Down-Ideologen, die behaupten, dass alle profitieren, wenn es bloß den Reichen gut geht?

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M?ris Ku?inskis im Gespräch mit seiner Parteifreundin Dana Reizniece-Ozola (ZZS),
Foto: Reinis Ink?ns, Saeimas Administr?cija

Der Saeima-Basar

Dass die Sitzung derart lange dauerte, war nicht die Folge scharfer ideologischer Auseinandersetzungen, sondern des Eifers der Abgeordneten, speziell für ihre Region Geld von der Finanzministerin Dana Reizniece-Ozola (ZZS) zu ergattern. Darüber berichtet irlv.lv. Die Ministerin hatte 20 Millionen Euro für Vorhaben zugesagt, über die die Parlamentarier selbst entscheiden sollten. Da galt es, sich für das Wahlvolk vor Ort einzusetzen. Die Volksvertreter reichten etwa 600 Vorschläge ein, die insgesamt 180 Millionen Euro gekostet hätten. Parlamentarische Mehrheiten fanden sich für einen bunten Reigen von baulichen Sanierungsvorhaben und sonstigen finanziellen Unterstützungen. Sehr erfolgreich waren ZZS-Abgeordnete, die hohe Beträge für Projekte in J?rmala und Ventspils durchsetzten. Nun steht in den Gemeinden zusätzliches Geld zur Verfügung, um Kirchen, Stadien, Wege und Parks zu sanieren, TV- und Radioprogramme zu finanzieren und vieles weitere mehr. Davon profitiert auch Willichs Partnerstadt Smiltene: Dort wird an der Daugavas iela 7A mit 200.000 Euro ein Wohnhaus gebaut, in dem junge Familien eine Bleibe finden sollen. Doch nicht jeder Politiker ist ein Freund dieses Basars. Der parteilose Abgeordnete Artuss Kaimi?š beschwerte sich in der genannten Ausgabe von R?ta Panorama: Die Vorschläge einiger Abgeordneter allein hätten bereits 27 Millionen Euro gekostet, der größte Teil davon wäre der Kommune von Ventspils zugute gekommen. Dort regiert der ebenso beliebte wie umstrittene Bürgermeister Aivars Lembergs, der mit der Regierungspartei ZZS eng verbandelt ist. Man habe Lembergs Tribut gezollt, um den Haushalt überhaupt verabschieden zu können. Zudem hält Kaimi?š manche Ausgaben, die so zustande kommen, nicht im Sinne des Steuerzahlers, zum Beispiel das Geld für die Herausgabe eines Buchs über Käse, insgesamt resümiert er über solche und ähnliche Vorhaben: "Ich möchte mit diesem beträchtlichen Diebstahl nichts zu tun haben [...] Ich weiß nicht, wie es sonst zu nennen ist."

 

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