Lettisches Centrum Münster e.V.

   

In Lettland: Renterhöhung per Referendum?
19.08.2008


Die Letten haben's derzeit mit Volksabstimmungen. Anfang August und damit vor kaum drei Wochen durften sie schon votieren, obKalenderblatt Rentenreferendum sie dem Souverän, also sich selbst, das Recht einräumen wollen, eine Auflösung des Parlaments einzuleiten, nun sollen sie am 23. August wieder an die Urnen. Diesmal, um per Volksbegehr eine Gesetzesnovelle auf den Weg zu bringen, die die klammen Portemonnaies von RenterInnen in der Baltenrepublik zumindest etwas auffüllen soll.
 
Noch ein paarmal Aufwachen, und dann steht die nächste Volksabstimmung in Lettland vor der Tür. Photo: Videoclip Zentrale Wahlkommission/cvk.lv
 
Aber nicht nur die allgemeine Lage der Seniorinnen und Senioren in Lettland ist bedenklich, auch die Politik steht in dieser Frage vor einem gewaltigen Dilemma. Weniger denn je ist Riga derzeit für soziale Morgengaben gerüstet. Die Konjunktur, die noch vor einem Jahr oder zwei mit Zuwachsraten von 10% und mehr glänzte, ist mächtig ins Stottern geraten, man wäre inzwischen schon froh, wenn das laufende Jahr mit einer schwarzen Null enden würde. Geradezu verzweifelt durchforstet die Regierung von Premierminister Ivars Godmanis dieser Tage Ministerien und Behörden nach streichungsfähigen Stellen. Aber in Vergleich zu dem Rentenfinanzierungsproblem gehört diese Sparmaßnahme doch eher in den "Peanuts"-Bereich.

Denn die Fakten sind unbarmherzig. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Bevölkerungswachstum in der kleinen Ostseerepublik merklich verlangsamt. Der Krieg selbst, der damit verbundene Frauenüberhang, Deportationen, Flucht in den Westen - dies alles riß Lücken in den Sockel der Alterspyramide, auch die sowjetische Besatzung erwies sich als wenig segensreich. Das Ergebnis dieser Entwicklung heißt Überalterung einer Gesellschaft, die zwar in die EU integriert ist, aber bei weitem noch nicht das Wohlstandsniveau der entwickelteren Mitgliedsländer erreicht hat.

Laut Angaben des Zentralen Statistikamtes hatten etwas mehr als 20% der Einwohner Lettlands Anfang 2008 das Rentenalter erreicht; für mehr als ein Fünftel dieser rund 560 000 Personen ist dieser Lebensabschnitt aber keineswegs gleichbedeutend mit Ruhestand, vielmehr heißt Dazuverdienen das Gebot der Stunde. Und dazu besteht auch einiger Anlaß. Auf der Ausgabenseite fletscht eine Inflationsrate um 17% grimmig die Zähne, während bei den Einnahmen die Rente selbst dem Existenzmininum hinterherhechelt. Die brutalen Zahlen: die Beschäftigten in Lettland kamen in diesem Sommer auf einen durchschnittlichen monatlichen Bruttoverdienst von umgerechnet 661,70 Euro (netto: 482,40 Euro). Das Existenzminimum belief sich zur selben Zeit auf 224,62 Euro, während die durchschnittliche Altersrente gerade einmal 192,09 Euro betrug (auffällig freilich, daß Männer mit 215,30 Euro deutlich besser dastanden als Frauen mit 169,15 Euro).
 
Lettische Rentner
So sieht das Wohlfahrtsministerium in Riga Lettlands Seniorinnen und Senioren gern: bei der allmorgendlichen Lektüre der Aktienkurse... Photo: Homepage des Wohlfahrtsministeriums/lm.gov.lv

Qua Zahl machten die Seniorinnen und Senioren beim letzten parlamentarischen Urnengang 2006 also eine überaus relevante WählerInnengruppe aus, und da rutschte wohl dem einen oder anderen politischen Matador das Versprechen einer Mindestrente von 284,40 Euro allzu leicht über die Lippen. Angesichts leerer öffentlicher Kassen und unter Inflationsdruck geraten, vermochten die Akteure in Kabinett und Regierungskoalition aber alsbald nichts mehr von dieser Zusage wissen. Und machten dabei die Rechnung ohne den Wirt - das heißt, den Souverän. Vor allem dessen betagteren Teil, der irgendwie an ein für Lettland völlig untypisches Tier erinnert, den Elefanten. Den Grauhäuten sagt man nämlich nach, sie könnten sehr alt werden und hätten ein hervorragendes Gedächtnis; desweiteren sind sie in manchen Regionen dieser Welt vom Aussterben bedroht.
 
Auch die politische Opposition steht in dieser Frage Gewehr bei Fuß, allen voran die Sabiedrība citai politikai tiesiskā valstī (Gesellschaft für eine andere Politik im Rechtsstaat), die sich im Herbst zur Partei mausern möchte, derzeit per Zeitungsinserat Mitglieder sucht und die "Herrschenden" in der Saeima, dem lettischen Parlament, ein wenig vor sich hertreiben möchte. Zum Bündnispartner im Kampf um höhere Renten hat man sich dabei die Pensionāru un senioru partija (Partei der Rentner und Senioren) ausgesucht, die allerdings selbst unter den älteren MitbürgerInnen Lettlands nicht ganz unumstritten ist und gleichfalls außerhalb der Saeima-Mauern agiert.
 
Arbeitselefant
Ein thailändischer Arbeitselefant macht Lettlands RentnerInnen vor, wie man wahlversprechende Politiker abspritzt... Photo: Wikipedia

Von drinnen signalisiert hingegen die oppositionelle Gruppierung Jaunais laiks (Neues Zeitalter) Unterstützung: "Es ist Aufgabe des Staates, für Rentner zu sorgen, die während ihres Arbeitslebens die Entwicklung des Staates gewährleistet und eine neue Generation herangezogen haben", so Parteichefin Solvita Āboliņa. Und auch die Vertreter der beiden eher links- und russisch-orientierten Parteien in der Saeima wissen wohl, daß ihre Klientel eher im Seniorenbereich anzusiedeln ist; ein Staat, der nicht für Rentner sorgt, "ist ein schlechter Staat", urteilt da Jakovs Plivners, der das Bündnis Par cilvēktiesībām vienotā Latvijā (Für Menschenrechte in einem geeinten Lettland) anführt.

Nachdem die Regierungskoalition die Initiative um eine Anhebung der Altersbezüge Anfang Juli im parlamentarischen Raum vor allem mit dem auch in Deutschland wohlbekannten Hinweis abgeschmettert hatte, diese würde "das Rentensystem sprengen", schoß die Pensionāru un senioru partija scharf zurück: man müsse nun zur Tat schreiten, um "den Völkermord an einer der ungeschütztesten Bevölkerungsgruppen" zu verhindern, tönte deren Vorsitzender Jānis Kleinbergs (s. unter anderem Diena, 21. April). Immerhin hatte man zusammen mit Sabiedrība citai politikai tiesiskā valstī bis Mitte Mai fast 180 000 Unterschriften gesammelt - mehr als nötig, um das Referendum am 23. August durchzusetzen. Nicht wenige dürfte dabei die Absicht von Verteidigungsminister (und Pferdezüchter) Vinets Veldre beflügelt haben, für Repräsentationszwecke eine berittene Ehrengarde aufzustellen...

Nun müssen mindestens 453 730 Wahlberechtigte an dieser Volksabstimmung teilnehmen und mehr als die Hälfte davon für eine Novellierung von §34 in den Übergangsbestimmungen zum Gesetz über die staatlichen Renten votieren. Der Entwurf sieht vor, daß bis zum 31. Dezember 2009 die Altersbezüge nicht kleiner sein dürfen als der Sozialhilfesatz von 63,99 Euro, multipliziert je nach Versicherungsdauer mit 3,0, 3,5, 4,0 oder 4,5 (bisher bewegen sich diese Koeffizienten zwischen 1,1 und 1,7).

Stimmzettel RentenreferendumSollte sich also der lettische Souverän für diesen Vorschlag entscheiden, würde die bisherige Mindestrente von 70,39 Euro auf 191,97 Euro hochschnellen.
 
Der Stimmzettel mit der alles entscheidenden Frage im Referendum am 23. August: Sind Sie für die Verabschiedung des Entwurfs einer Novelle des Gesetzes über die staatlichen Renten? Photo: Videoclip Zentrale Wahlkommission/cvk.lv
 
Erste Schätzungen besagen, daß für den Rest des Jahres zusätzlich ingesamt 130 Mio. Euro fällig würden, für 2009 jedoch 526 Mio. Euro (Diena, 4. Juli). Nur zum Vergleich: der Staatshaushalt 2008 weist auf der Einnahmenseite 7,82 Mrd. Euro auf. Zusätzlichen Sprengstoff bergen aber die Pläne der Regierung, den Sozialhilfesatz auf 85,32 Euro anzuheben - was dank der weiter oben dargestellten Verknüpfung automatisch auf einen weiteren Anstieg der Renten hinausliefe.
 
Die Frage, ob das Referendum nun scheitert wird oder nicht, kann derzeit als durchaus offen gelten. Auf der einen Seite hat sein Anliegen in den letzten Wochen keineswegs die mediale Präsenz der vorgangenen Volksabstimmung erlangt, die mit dem vorgeschlagenen Recht zur Auflösung des Parlaments durch den Souverän ja von vielen als Schicksalsfrage, als Systembruch gesehen wurde. Auf der anderen Seite handelte es sich bei den Seniorinnen und Senioren um eine Bevölkerungsgruppe, die sehr wohl in der Lage ist, sich um eine konkrete, sie ganz persönlich betreffende Forderung zu scharen. Das berühmte Bauchgefühl der Lettischen Presseschau hat allerdings eine schlechte Nachricht für die RenterInnen an der Daugava: es wird nicht klappen. Auch wenn dem Überbringer dieser Prognose der Magen gar furchtbar grimmt.

-OJR-





 
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