Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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16.04.2021


“Inklusiv entfremdet” - aber gewaltfrei

Niederländischer Druck aus dem 18. Jahrhundert, der die Einwohner Asiens, Amerikas und Afrikas als halbnackte Hinterwäldler darstellt, Engländer, Niederländer, Deutsche und Franzosen hingegen vornehm gekleidet, Foto: J. Bouwer first published in Amsterdam (1767 -1779). Neaizsargâts darbs, Saite

 

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Philosoph Thomas Hobbes, der dieses antike Sprichwort nutzte, um den Naturzustand zwischen Staaten zu beschreiben, stellte auch die Gegenthese auf: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen. Ob der Mensch bei der Einschätzung seiner Mitmenschen übertreibt, hängt davon ab, welche Stereotypen und Vorurteile ihn geprägt haben. Im letzten Sommer erforschten die Soziologen Inta Mierina, Martins Kaprans und Andris Sautins in Zusammenarbeit mit dem Umfrageinstitut SKDS die Stereotypen und Vorurteile von Letten und von in Lettland lebenden Einwohnern russischer Herkunft, fortan kurz “Russen” genannt (fsi.lu.lv). Es zeigte sich, dass Russen etwas vorurteilsfreier als Letten sind. Die Forscher können auch erklären, weshalb...


Die gute Nachricht der Studie gleich zu Beginn: Rassistisches Denken findet in Lettland keine Mehrheiten. Allerdings gibt es zu einzelnen Fragen größere Minderheiten, die andere Ethnien abwerten. Das Phänomen ist auch in Deutschland bekannt: Negative Einschätzungen anderer Ethnien verbreiten sich vor allem in Gegenden, wo keine andere Ethnien leben. Daher sind negative Vorurteile auf dem Land, wo nur Letten leben, häufiger anzutreffen als in der Stadt, wo Letten und Russen neben- bzw. miteinander auskommen müssen. Daher kommt es, dass elf Prozent der Letten eine sehr negative Einstellung gegenüber Russen haben, umgekehrt ist dies nur in einem Prozent der Fall. Im Interview mit dem LSM-Journalisten Sergejs Pavlovs nennt Martins Kaprans die regionalen Unterschiede: “In den allerlettischsten Regionen, in Vidzeme und Kurzeme, ist das Empfinden kultureller Unterschiede ausgeprägter. In Riga und Latgale hingegen hat eine größere Zahl von Letten Russen als Freunde und Bekannte, die Menschen achten weniger auf den Unterschied. Das multikulturelle Milieu, in welchem du lebst, verringert die Vorurteile, das folgt nämlich aus der `Kontakthypothese`, wenn du tagtäglich mit der anderen Gruppe in Kontakt bist, verringert das die Vorurteile.” (lsm.lv)


Meistens verlaufen die alltäglichen lettisch-russischen Begegnungen problemlos. Die bekannten historischen und politischen Streitthemen spielen dabei keine Rolle, Kaprans erklärt es so: “Wenn ein Mensch [aus dem russisch dominierten Rigaer Stadtteil] Kengarags und ich uns in [den Supermarktketten] Maxima oder Rimi treffen, dann fassen wir uns nicht wechselseitig am Kragen, obwohl wir wahrscheinlich verschiedene Auffassungen von der Situation im Donbass haben. Wir kaufen zusammen Apfelsinen oder etwas in der Art. Das ist die `banale Integration`, die über ideologische Konfliktpositionen steht. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die Konfliktpositionen nicht verschwinden. Sie koexistieren. Politische Polarisation und soziale Nähe koexistieren. Diese Situation kann man als `inklusive Entfremdung` bezeichnen. Wir passen uns wechselseitig an, entfremden uns aber auch in politischer Hinsicht.” Die politischen und historischen Konflikte bilden nur einen Teil des lettisch-russischen Verhältnisses, das im Alltag von anderen Themen bestimmt wird.


So unterscheidet Kaprans die konfliktträchtige “politische Realität” von der “sozialen Realität” des Alltags, die sich in Lettland erstaunlich friedlich gestaltet: “Im Unterschied zu vielen anderen Ländern ist die politische Realität bei uns nie zu einer Gewaltquelle geworden. Und das ist ziemlich einzigartig. In Europa sehen wir oft, dass die politische Realität physische Aggression provoziert, Gewalttaten, Zusammenstöße, die einen Gruppen gegen die anderen. In Lettland ist diese kulturelle und emotionale Nähe, die auch in unserer Studie erkennbar ist, viel stärker als die Entfremdung in der politischen Realität.”


Die politische Realität macht sich allerdings bei Saeima-Wahlen bemerkbar: Für 26 Prozent der Befragten hat die “ethnische Frage” große Bedeutung, für 35 Prozent immerhin etwas. Für einen Großteil der Wählerschaft ist es (immer noch) wichtiger, ob eine Partei als “lettisch” oder “russisch” gilt denn als sozial, liberal oder konservativ. Allerdings fand Kaprans den Anteil jener Wähler, die nach ethnischen Gesichtspunkten entscheiden, überraschend gering. Auch der Anteil jener Befragten, die der Ansicht sind, dass die Volkszugehörigkeit ziemlich viel (37 Prozent) oder sehr viel (7 Prozent) über den Charakter eines Menschen aussagt, bildet eine große Minderheit.


Sergejs Pavlovs scheute sich im Interview nicht, Hand an eine heilige lettische Kuh zu legen und zitierte folgende Stelle aus der Untersuchung: “Im Unterschied zu westeuropäischen Ländern haben zentraleuropäische und baltische Länder (ZBL) wenige neue Immigrantengemeinden, gegen die sich Vorurteile richten ließen. Statt dessen drücken sich Vorurteile, falls sie bestehen, im Verhältnis zu nationalen Minderheiten, unter ihnen die historischen Minderheiten, aus. Das steht im Zusammenhang mit den Demokratiebewegungen dieser Länder Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, deren neue Identität auf ethnokulturellem Nationalismus basierte, der auch die Ansichten über ethnische Minderheiten beeinflusste und weiterhin die Vorstellungen der Einwohner dieser Länder über die symbolischen Grenzen der Nation beeinflusst. Hier ist bedeutsam, den größeren historischen Kontext zu beachten. Beispielsweise verdeutlichen wissenschaftliche Studien, dass man in Ländern, die in der Vergangenheit gewaltsame Konflikte erfuhren und auch Territorium und Souveränität verloren, einen ausgeprägteren Ausdruck des ethnischen Nationalismus` und eine migrantenfeindlichere Stimmung beobachten kann.” Pavlovs fragt, ob missratene Manifestationen des Nationalismus` eine Folge des “Erwachens” sind, wie Letten die Zeit ihrer Unabhängigkeitsbewegung bezeichnen.


Kaprans erklärt diese Haltung mit der ideologischen Leere, die der Zusammenbruch der UdSSR hinterließ. Diese hätten Letten recht schnell mit der Idee gefüllt, sich als ethnokulturelle Nation zu erneuern. Doch nur für einen Teil der Gesellschaft sei er die ideologische Grundlage geblieben.


Der Ethnozentrismus hat Folgen für die Einschätzung anderer Gruppen. So stimmt jeder dritte Lette und jeder vierte Russe der Aussage zu, dass manche ethnische Gruppen intelligenter oder weniger intelligenter seien als andere. Kaprans ist der Meinung, dass sich aus diesem Ergebnis nicht unmittelbar Rassismus schließen ließe, denn die Frage sei abstrakt und nicht in Bezug auf bestimmte Ethnien gestellt worden. Zudem habe man nicht erkundet, ob der oder die Befragte die eigene Ethnie an der Spitze solcher Hierarchien verortet. Immerhin stimmten Zweidrittel keiner rassistischen Aussage zu.  


Die größten Vorurteile richten sich gegen Gruppen, mit denen die Einwohner Lettlands selten zusammenkommen, Afrikaner oder Mohammedaner. Über Mohammedaner hätten die Vorfahren noch gar keine Vorstellungen gehabt. Aber auch Roma trifft es, die in Kurzeme leben und die in lettischen Medien zuweilen noch „cigani“ genannt werden. Der Soziologe hält manche Vorurteile für historisch überliefert: Es gebe positive und weniger positive Vorstellungen über die Roma-Gemeinde, die sich durch persönliche Kontakte und nicht über Massenmedien gebildet hätten. Am Beispiel der Roma behauptet Kaprans etwas, das selbst wiederum recht umstritten sein dürfte: „Wir haben das in der Studie nicht herausgestellt, aber viele Soziologen stellen fest, dass negative Stereotypen nicht immer unbegründet sind. Dass Roma in Lettland marginalisiert und sozial abweichend sind, ist eine Tatsache. Das `erneuert` bestehende negative Stereotypen, die auch objektive Gründe haben können. Wenn man sich beispielsweise die Kriminalstatistik Rigas anschaut, Taschendiebstähle, dann können sich dort größere Anteile aufzeigen als es sein müsste.“ Dass Roma demnach überproportional Diebstahl begehen, könnte sich aus ihrer sozialen Prekarisierung ergeben.


SKDS-Leiter Arnis Kaktins pflegt angesichts dieser Studie eine etwas skeptischere Sicht auf die eigene Ethnie. Letten stellten sich als leidendes Volk dar, pflegten aber Hochmut gegen andere ethnische Gruppen. “Ich sage nicht, dass Chauvinismus unter Letten sehr verbreitet ist. Doch die Umfrage zeigt, dass es unschöne Aspekte gibt, dennoch gefiele es mir besser, wenn sie sich nicht so ausgeprägt zeigten. Andererseits, wenn man von Nationalismus und Chauvinismus absieht, von diesen sonderbaren Antworten absieht, sehen wir auf der Straße keine besonders augenfälligen Probleme, keine nationalistisch und chauvinistisch gefärbten Konflikte. Da gibt es eher irgendwelche Grobheiten, falls irgendjemand dir auf die Füße tritt. Dafür sehen wir es oft im Internet, in den sozialen Netzwerken, wo Menschen sich anonym fühlen. Dennoch gestatten uns Internetkommentare nicht einzuschätzen, wie verbreitet dieses Phänomen ist. Wie aus Untersuchungen hervorgeht, ist es ein vergleichsweise geringer Prozentsatz der Bevölkerung, der irgendwas im Internet kommentiert und diese Kommentare sind für die Meinungen der Mehrheit nicht charakteristisch.” (lsm.lv)

UB




 
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