Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Lettland und der Grexit
07.07.2015


Beleuchtetes Euro-Zeichen in Frankfurt a.M.Lettland gehört zu den Ländern, die von deutschen TV-Talkgästen an erster Stelle genannt werden, um Härte gegen Hellas einzufordern: Was sollen die Letten denken, wenn die Griechen "ihre Hausaufgaben" nicht machen? Schließlich erhielt 2009 auch Lettland nach dem Bankencrash sogenannte "Hilfe", einen 7,5-Milliarden-Kredit, von EU und IWF. Die liberalkonservative Regierung befolgte alle Auflagen und bürdete ihren Bürgern damals empfindliche Budgetkürzungen auf. Erwerbslosenquoten von mehr als 20 Prozent, Lohnkürzungen bis zur Hälfte des Einkommens und verstärkte Abwanderung waren die unmittelbaren Folgen. Seit einiger Zeit wächst die Wirtschaft wieder und die Erwerbslosenzahlen sind rückläufig. Doch die Bevölkerung zeigt sich weiterhin unzufrieden mit niedrigen Löhnen und der sozialen Spaltung. Manche misstrauen den Politikern, die in ihren Statements zu Griechenland so befremdlich deutsch klingen. Das zeigen Leser-Kommentare auf den Webportalen. Die folgende kleine Auswahl kann nicht beanspruchen, repräsentativ zu sein, deutet aber darauf hin, dass Letten sich nicht derart pauschal für die EU-Austeritätspolitik vereinnahmen lassen, wie es deutsche Leitmedien derzeit darstellen.

Euro-Zeichen in Frankfurt a.M., Foto: „EZB“ von Christoph F. Siekermann - self made, original upload at http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:EZB.jpg 17:26, 7. Mai 2006 by de:User:Siekermann. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

 

Lettische Webleser widersprechen den Politikern

Finanzminister J?nis Reirs propagierte am 7.7.2015 vor Brüsseler Journalisten abermals die "Erfolgsgeschichte" seiner Regierungspartei Vienot?ba. Die damalige Kürzungspolitik habe dazu geführt, dass "wir das Budget in sehr kurzer Zeit in Ordnung brachten". Allerdings war der lettische Staat nie annähernd so hoch verschuldet wie der griechische. In Lettland verschuldeten sich vor allem die Bürger, die 2009 ihre Immobilienkredite nicht mehr bedienen konnten. Für Reirs war die IWF-geführte Austeritätspolitik die Voraussetzung für die Erholung der lettischen Wirtschaft. Von dieser scheinen aber nicht alle Bürger etwas zu merken. Viele denken immer noch über ein besseres Leben im Westen nach, die Bevölkerungszahl fiel in diesem Jahr unter die Zwei-Millionen-Grenze. Der Behauptung des lettischen Finanzministers, die Letten könnten das Oxi der Griechen, das Nein zu den Troika-Diktaten aus Brüssel, nicht begreifen, widersprechen die Leserkommentare auf delfi.lv. Jemand, der sich als Pseudonym den Schriftstellernamen "Ojars Vacietis" zugelegt hat, fragt Reirs, ob er nicht verstehe, dass man unabhängig leben könne und sich nicht von irgendwelchen Leutchen aus Brüssel kommandieren lassen müsse. Die Griechen seien keine Diener, deshalb verstehe Reirs sie nicht. Die angelsächsische Kritik am Kurs der EU hat sich bis zur lettischen Leserschaft herumgesprochen. Webleser "Ursislatvis Lopis" führt Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ins Feld, der das Verhalten der EU als Brüsseler Angriff auf die griechische Demokratie bezeichnet habe. Viele Vorwürfe, die man den Griechen mache, seien nicht korrekt. Außerdem fragt sich Lopis, weshalb alle lettischen Medien nur vom Brüsseler Standpunkt aus berichteten. Nra.lv-Leser "HaHa" reagierte am 7.7.2015 auf einen der üblichen journalistischen Kommentare mit der Frage, weshalb alle so besorgt seien, dass die Griechen ihre Schulden nicht beglichen. Wahrscheinlich deshalb, weil alle anderen fürchteten, mit dem eigenen Wohlstand, dem eigenen Wachstum zahlen zu müssen. Doch warum hätten plötzlich alle vergessen, dass Lettland in der Bankenkrise in einer vergleichbaren Situation gewesen sei? Ob damals das Volk gefragt worden sei, ob es skandinavische Banken retten wolle oder nicht, ob es skandinavische Pensionsfonds retten wolle oder nicht. Dem Volk und der Wirtschaft sei das Geld genommen worden, um es den Banken zu geben. Diese hätten mit dem Geld Unternehmen und Wohnungen zum Preis eines Butterbrots ersteigert. Das Volk hingegen sei emigriert, um die Arbeitslosenstatistik zu verbessern. Ob dies auch geschehen wäre, wenn die Letten die Möglichkeit eines Referendums gehabt hätten? "HaHa" glaubt: "Niemals!" Die Regierenden Griechenlands wüssten hingegen, was Volksherrschaft und Demokratie bedeuteten. Auch der Chef der lettischen Zentralbank, Ilm?rs Rimš?vi?s, weiß die Leser nicht recht zu überzeugen. Sie kommentierten das Interview, das er dem Lettischen Radio am 7.7.2015 gab. Rimš?vi?s verlautbarte im deutschen Jargon: Die Griechen hätten ihre Hausaufgaben nicht gemacht und das griechische Volk habe sich nun kühn aus der Eurozone gestimmt. "Marta" vertraut dem Zentralbankchef nicht. Seine Politik sei, Angst vor dem eigenen Volk zu haben. Die Griechen würden gewinnen. "Bobs" sekundiert, das "alte Europa" habe das, was Rimš?vi?s erörtere, längst in Betracht gezogen, Merkel seine Worte längst gesagt. Und "Gan" ist der Ansicht, dass die Griechen ohne die "lettische Troika" zurechtkommen könnten. Dazu zählt er neben Rimš?vi?s den ehemaligen Ministerpräsidenten und jetzigen EU-Kommissar Valdis Dombrovskis sowie den Ex-Finanzminister Andris Vilks. Beide Vienot?ba-Politiker arbeiteten in der Finanzkrise mit dem IWF zusammen, um die Kürzungspolitik im eigenen Land durchzusetzen.

 

Weitere LP-Artikel zum Thema:

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Externe Linkhinweise:

nra.lv: Rimš?vi?s: Grie?u tauta drosm?gi sevi izbalsojusi no eirozonas

nra.lv: Grie?ija – izeju mekl?jot

delfi.lv: Reirs: Latvijas iedz?vot?ji nesaprot grie?us




 
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