Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Karsten Brüggemann über “Das Wunder von Riga”
14.03.2021


Der 22. Mai 1919 in der deutschbaltischen Mythenbildung

Denkmal für die baltische Landeswehr auf dem Rigaer Brüderfriedhof, Foto: Dr. Hans-Dieter Handrack, CC BY-SA 3.0 de, Link

Ein Historiker hat es in nationalen Identitätsdebatten nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Häufig dekonstruiert, entzaubert er die Mythen der kollektiven Erinnerungskultur, deren Ziel es ist, die eigene Nation oder Ethnie so darzustellen, dass sich die Mitglieder mit ihrer eigenen Gruppe (meistens zulasten anderer Gruppen) identifizieren. Über das, was die eigene Identität ausmacht, will niemand gern etwas Kritisches hören oder lesen. Daher ist in entsprechenden Debatten viel Emotionalität im Spiel. Man denke an das Wort “Vogelschiss”, mit welcher AfD-Politiker Alexander Gauland die deutsche Nazi-Vergangenheit quasi als ärgerlichen Schönheitsfleck glorreicher deutscher Geschichte darstellen und verharmlosen wollte.  


In manchen europäischen Ländern, auch in Lettland, versuchen Nationalkonservative auf die Lehrpläne einzuwirken, damit Pädagogen, statt historische Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven darzustellen, einseitige, national verzerrende und identitästsstiftende Interpretationen vermitteln. Ein Beispiel dafür bot im letzten Jahr der Streit um die Dokumentation “Lettische [SS-]Legion. Auferstehung der Gerechtigkeit”, den der Mitvorsitzende der Nationalen Allianz, Rainis Dzintars, lettischen Schulen anbot. Darauf wandte sich Tatjana Zdanoka, die wiederum im Sinne einer russischen Identität Politik betreibt, an den lettischen Verfassungsschutz, der prüfen sollte, ob bestimmte Filmszenen die deutschen NS-Täter und ihre lettischen Kollaborateure in zu positivem Licht darstellten (tvnet.lv).


Einen anderen zeitlichen Ausschnitt, der zu “unversöhnlichen Geschichtsauffassungen” führte, thematisiert Karsten Brüggemann, der Geschichte an der Universität Tallinn lehrt, in seinem aufschlussreichen wissenschaftlichen Aufsatz “Legenden aus dem Landeswehrkrieg: Vom `Wunder an der Düna` oder: Als die Esten Riga befreiten” von 2002.1 Brüggemann bezieht sich auf die Ereignisse zwischen 1917 und 1921, als am Ende des Ersten Weltkriegs sich Esten, Letten und Litauer von den fremden Herrschern befreiten und eigene Nationen gründeten. Er stellt u.a. den deutschbaltischen Mythos dar, der den 22. Mai 1919 zum Inhalt hat, also den Tag, an dem die deutschbaltische Landeswehr die Bolschewisten aus Riga vertrieb.  


Brüggemann beschreibt, wie sich ein kollektiver Mythos je nach historischer Situation einer ethnischen Gruppe verändert. Nach der Niederlage des Deutschen Reiches sah sich die sowjetische Regierung nicht mehr an den Vertrag von Brest-Litowsk gebunden und ließ die lettischen Mitstreiter den größten Teil des lettischen Gebiets erobern. Allerdings ging das bolschewistische Regime von Peteris Stucka derart brutal vor, dass es innerhalb der Bevölkerung kaum Rückhalt gewinnen konnte. Nach Brüggemanns Ausführungen war der bolschewistische Rückzug längst absehbar, als die deutschbaltische Landeswehr unter Führung des Reichswehrgenerals Rüdiger van der Goltz in Riga einrückte.  


Dieses Ereignis begingen Deutschbalten fortan als Gedenktag. Der Historiker Georg von Rauch bezeichnete es als “Wunder von der Düna” (also sind auch Historiker vor historischer Mythenbildung nicht gefeit). Diese Tat galt Rauch als deutschbaltische “Visitenkarte”, um in die neuen Nationalstaaten Estland und Lettland einzutreten und Ansprüche geltend zu machen. Brüggemann dazu: “Die Erinnerung an den 22. Mai stärkte noch einmal deutschbaltisches Sendungsbewußtsein und kompensierte dadurch die Tatsache, daß die deutsche Minderheit durch die Agrarreformen in Estland und Lettland buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren hatte. Der 22. Mai gab somit in erster Linie eine Antwort auf die Sinnfrage der Minderheit in der jungen Republik und legitimierte eigene Rechte.”2


In der deutschbaltischen Memoirenliteratur der frühen Nachkriegszeit lasse sich laut einer Beobachtung von David Feest keinen Hinweis auf einen gemeinsamen Kampf mit Esten und Letten gegen den Bolschewismus finden. Deren Truppen hatten ja gerade erst am 23. Juni 1919 in der Schlacht bei Wenden (Cesis) die Landeswehr besiegt, die die deutschbaltischen Privilegien verteidigen wollte, sich deshalb nicht nur gegen die Sowjets richtete, sondern auch gegen von Esten und Letten geführte Nationalstaaten.  


Bis 1939, dem Jahr der sogenannten “Umsiedlung” der Deutschbalten in den Warthegau, betonte die deutschsprachige Minderheit ihr Sendungsbewußtsein in der eigenen Erinnerungskultur: “Man sah sich als `Vormauer` der Christenheit der gesamten Ostseeregion, ja vielleicht ganz Europas, und definierte den eigenen Status kulturell und übernational im Kontext des `Landesdienstes`: Die `christlichgermanische Sendung in den Osten` sei der Sinn des Baltentums, so hieß es in der Baltischen Monatsschrift im Jahre 1929. Gegenüber der Quantität von Esten und Letten wurde nach wie vor die vermeintliche eigene Qualität in die Waagschale geworfen. Letztere spielten in dieser Sicht weiterhin höchstens eine Objektrolle.”3


Zur Zeit des Kalten Krieges veränderte sich der deutschbaltische Mythos. Die meisten Deutschbalten und auch viele Esten und Letten, die die stalinistische Verfolgung fürchteten, waren inzwischen in den Westen emigriert bzw. geflohen und es einte sie das antisowjetische Bewusstsein: “Die Parameter verschoben sich: Aus der positiven Identifikation des Kampfes um die Heimat wurde in der unfreiwilligen Emigration der `diktierten Option` die negative Orientierung am Kampf gegen die rote Finsternis im Osten. Die traditionelle, in manchen deutschbaltischen Kreisen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in der Emigration und der adligen Führungsschicht virulente Russophobie fand sich durch die Zeitläufte in einem neuen bipolaren Weltbild bestätigt: Man stand auf der richtigen Seite.”4


So sah man nun den estnischen und lettischen Befreiungskampf im neuen antisowjetischen Licht: “Unter Beibehaltung des repräsentativen, aus der Zeit der nationalen Republiken bekannten Melioritätsgefühls kamen allmählich die ehemaligen `Indigenen` wieder ins Spiel: Positiv über die Geschicke der Esten und Letten im 20. Jahrhundert zu schreiben, ihren antibolschewistischen Geist zu rühmen und den Opfern Märtyrerstatus zuzugestehen, wurde nun untrennbarer Bestandteil des antisowjetischen Impetus der Deutschbalten in der Emigration. Der antiimperiale Freiheitsdrang der früher gern abschätzig `Nationale` genannten Esten und Letten war nun genuine und gerechte Reaktion auf jegliche historischen Russifizierungsbemühungen St. Petersburgs bzw. Moskaus.”5


Solche mystifizierenden Geschichtsinterpretationen haben konkrete Auswirkungen auf die Politik. Es ist offensichtlich, dass baltische Kreise, die sich mit diesem entschiedenen Antibolschewismus identifizierten, in der Regel keine Anhänger von Willy Brandts versöhnender Ostpolitik sein konnten. Christdemokraten unter der Führung Rainer Barzels opponierten damals vor allem aus diesem Grund gegen die sozialliberale Koalition, was beinahe zu ihrem Sturz geführt hätte. Die CDU erfüllte damit den Wunsch der Vertriebenenverbände.


Mythen in der Erinnerungskultur sind also nicht ohne. Sie verschärfen bestehende Gesinnungsfronten und blockieren politische Lösungen. Auch wenn Brüggemann deren Dekonstruktion als “kein leichtes Geschäft” betrachtet, das “nicht selten bestraft” werde, so ist sie doch notwendig, gerade in der heutigen Zeit, in der nationale Identitätspolitiken oftmals die internationale Verständigung erschweren.6 Sein lesenswerter, fast 20 Jahre alter Beitrag, der Bezüge zu aktuellen Fragen aufweist, ist nun auf academia.edu kostenlos zu beziehen.

 

Quellen:

1in: Zeitschrift für Ostmiiteleuropa-Forschung 52 (2002), Heft 4, S. 576-591.

2S. 579.

3S. 582f.

4S. 584.

5S. 584.

6S. 576.

UB

 




 
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