Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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EU-Kommission schlägt Richtlinie für armutsfeste Mindestlöhne vor
12.02.2021


Kritiker finden den Entwurf zu unverbindlich

Foto: ETUC-Logo, Gemeinfrei, Link

Der deutsche Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder lobte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2005 seine eigene Politik: "Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt." (fr.de) Einer der besten bedeutete vor allem der absolut größte und einer der relativ größten in der EU. Der relativ größte befindet sich in Lettland, wo 2018 beachtliche 23,5 Prozent der Lohnabhängigen mit Niedriglöhnen, also mit weniger als Zweidrittel des nationalen Medianeinkommens, zurechtkommen mussten, in Deutschland waren es 20,7 Prozent (ec.eurostat.eu). Sozialpolitisch befinden sich Lettland und Deutschland in unrühmlicher Nachbarschaft: In beiden Ländern zahlen Unternehmer mehr als einem Fünftel der Beschäftigten Löhne, die nicht vor Armut schützen. Die EU-Kommission veröffentlichte am 28. Oktober 2020 einen Entwurf, um “angemessene” Mindestlöhne einzuführen. Sie hat die Tarifparteien aufgefordert, zur geplanten EU-Richtlinie, an der sich nationale Gesetzgeber in Zukunft orientieren müssten, Stellung zu beziehen. 


Valdis Dombrovskis, lettischer Vize-Präsident der EU-Kommission, begründete die Notwendigkeit, sich auf EU-Ebene für Tarifautonomie und Mindestlöhne einzusetzen: „Es muss sichergestellt werden, dass auch Geringverdienende vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren. Mit diesem Vorschlag wollen wir dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU dort, wo sie arbeiten, ihren Lebensunterhalt in angemessener Form bestreiten können. Den Sozialpartnern kommt bei den Lohnverhandlungen auf nationaler und lokaler Ebene eine entscheidende Rolle zu. Wir unterstützen ihre Tarifautonomie. Wo dies nicht möglich ist, bieten wir einen Rahmen, der den Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Mindestlöhnen als Richtschnur dient.“ (ec.europa.eu) Das sind denkwürdige Worte für den ehemaligen lettischen Ministerpräsidenten, der zulasten des Sozialen die Staatsfinanzen sanierte, was als “Austeritätspolitik” und “innere Abwertung” bekannt wurde. EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen beklagt die Dumpinglöhne, die der Arbeit die Würde nähmen und auf dem Binnenmarkt den Wettbewerb verzerrten.


Offenbar soll zukünftig Markt-Wettbewerb nicht mehr mittels Kürzung der Löhne und sozialer Leistungen vonstatten gehen. Die Kommission beschreibt in ihrem Entwurf die missliche Lage: “In den meisten Mitgliedstaaten mit nationalen gesetzlichen Mindestlöhnen sind diese – im Vergleich zu anderen Löhnen oder um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten – zu niedrig, trotz ihrer Erhöhung in den letzten Jahren. Die nationalen gesetzlichen Mindestlöhne liegen in beinahe allen Mitgliedstaaten unter 60 % des Bruttomedianlohns und/oder 50 % des Bruttodurchschnittslohns. In neun Mitgliedstaaten bot der gesetzliche Mindestlohn 2018 nicht ausreichend Einkommen, um als Mindestlohnempfängerin oder Mindestlohnempfänger über die Armutsgefährdungsschwelle zu kommen. Darüber hinaus sind bestimmte Arbeitnehmergruppen vom Schutz der nationalen gesetzlichen Mindestlöhne ausgenommen. In Mitgliedstaaten mit einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung ist der Anteil der Geringverdienenden tendenziell niedrig und die Mindestlöhne hoch. Jedoch auch in Mitgliedstaaten, die sich ausschließlich auf Tarifverhandlungen stützen, haben einige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Zugang zum Mindestlohnschutz.” (ec.europa.eu)


Der Entwurf ist umstritten, manchen erscheinen die wohlklingenden Worte zu unverbindlich. Frank Puskarev und Thomas Händel halten diese EU-Ideen für “Potemkinsche Dörfer” (rosalux.de). Der Vorschlag enttäusche “auf ganzer Linie”, weil er weder angemessene Mindestlöhne noch die allgemeine Verbindlichkeit von Tarifverträgen festlege. Die EU-Kommission führt vertragsrechtliche Gründe an, weshalb sie nichts Konkretes bestimmen dürfe. Puskarev und Händel halten dieses Argument für vorgeschoben. 

 

 

 

Anteil der Niedriglohnbeschäftigten 2018 in ausgewählten EU-Ländern



Quote in %

Schwelle in €  

Tarifbindung in %

Gini-Index

2019

Lettland

23,5

3,28

14

35,2

Litauen

22,3

2,94

7

35,4

Estland

21,9

4,35

19

30,5

Polen

21,9

3,32

17

28,5

Deutschland

20,7

11,48

54

29,7

EU-Schnitt

15,5

9,03

61

30.2

Österreich

14,8

10,18

98

27,5

Italien

8,5

8,41

80

32,8

Portugal

3,9

3,58

74

31,9

Schweden

3,6

12,1

90

27,6

Quellen: portal-sozialpolitik.de, etuc.org und statista.com

Lettland steht in Tabellen mit prozentual höchstem Niedriglohnsektor immer noch an der Spitze der EU, gefolgt von den anderen baltischen Staaten. Allerdings hat sich in Lettland der Anteil von 30,9 Prozent im Jahr 2006 auf 23,5 Prozent verringert. Auch in Deutschland liegt der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten weit über EU-Durchschnitt; in Österreich und Italien ist die ungleiche Entlohnung weniger ausgeprägt; neben Schweden, das den geringsten Niedriglohnanteil aufweist, steht Portugal recht gut da. Der Anteil tarifgebundener Löhne zeigt, dass dort, wo starke Gewerkschaften mit Unternehmern über Löhne verhandeln, der Anteil der Niedriglöhner tendenziell geringer ist. Leider sind die Etuc-Zahlen über Tarifbindung ohne genaue Jahresangabe. Weniger klar ist der Bezug zum Gini-Index, der die ungleiche Einkommensverteilung in einem Land misst – je höher der Index, desto ungleicher die Verteilung. Aber auch hier liegen die baltischen Länder weit vorn. Der Gini-Index misst allerdings nur bezogene Löhne und Gehälter; bei dem schwer einzuschätzenden Vermögen, das geerbt wurde oder das sich Privatiers durch Aktien erwirtschaften und das nicht selten offshore vor dem staatlichen Zugriff gesichert ist, sähe die Statistik auch für Deutschland noch deutlich schlechter aus.


Die Unverbindlichkeit kommt den Unternehmern entgegen, die kein Interesse an dieser Richtlinie haben. Darauf deutet eine Stellungnahme des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes (ZDB) vom 2. Dezember 2020 hin: “Der ZDB ist weiterhin der Auffassung, dass es der Einführung von Kriterien für europaweite Mindestlöhne, jedenfalls aus deutscher Perspektive, nicht bedarf. Vielmehr besteht durch die Schaffung von europäischen Kriterien, die das gut funktionierende deutsche System oder solche von anderen Mitgliedstaaten überschreiten oder diesen widersprechen, die Gefahr, dass ein drittes System etabliert wird, dass die Harmonie der bestehenden Systeme des gesetzlichen Mindestlohnes sowie der tariflichen Mindestlöhne aus dem Gleichgewicht bringt und diese gefährdet.” (zdb.de) Von Unternehmerseite besteht also an armutsfesten Löhnen und Gehältern kein Interesse. Zudem bietet die “Harmonie bestehender Systeme” sogar bei zu niedrig festgelegten Mindestlöhnen noch Schlupflöcher: Zeitungszusteller in Deutschland beispielsweise, die zur frühmorgendlichen Brötchenbackstunde die Abonnenten beliefern, können dank der Lobbyarbeit von Pressekonzernen vom Mindestlohn weiterhin nur träumen (verdi.de).


Die lettische LBAS-Gewerkschafterin Natalja Preisa begrüßt den Vorstoß der EU-Kommission. Preisa teilt die Ansicht der Kommissare, dass sie zur Festlegung von Mindestlöhnen nicht berechtigt seien. Sie hält auch die allgemein gehaltenen Formulierungen für einen Fortschritt und verspricht sich davon Verbesserungen in ihrem Land, wo Gewerkschaften nur wenig Einfluss haben und wo nur noch 14 Prozent der Löhne tariflich vereinbart sind (etuc.org). Preisa benennt die europäische Misere, die nicht nur durch das nationale Lohngefälle innerhalb, sondern auch durch das internationale Lohngefälle zwischen den EU-Ländern verursacht wird: “Derzeit unterscheiden sich die Mindestlöhne auf dem geeinten Binnenmarkt der EU, der durch grenzüberschreitende Tätigkeiten der Unternehmen und durch Freizügigkeit der Beschäftigten gekennzeichnet ist, was oft Sozialdumping und Arbeitsmigration bewirkt. Die ökonomische Konvergenz [Annäherung] der EU wurde im Verlauf vieler Jahre mit verschiedenen anderen ökonomischen und finanziellen Mitteln nicht erreicht. Der Vorschlag zu dieser Richtlinie ist bislang die einzige praktische Maßnahme, die das Ziel zu erreichen vermag, große Unterschiede beim Mindestlohn zu beseitigen.” (arodbiedribas.lv) Allerdings bezieht sich der EU-Entwurf auf die Anhebung nationaler Mindestlöhne und nicht auf deren internationale Angleichung.


Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), dem der deutsche DGB und und die lettische LBAS angehören, beharrt hingegen auf Konkreteres (etuc.org). Die EU-Kommission soll bestimmen, dass der Mindestlohn eine “Anstandsschwelle” nicht unterschreiten darf. Er soll mindestens 60 Prozent von den Medianlöhnen und mindestens 50 Prozent von den Durchschnittslöhnen betragen, die innerhalb der einzelnen Länder gezahlt werden. Zudem fordert der EGB, dass öffentliche Auftraggeber nur noch mit Firmen kooperieren, die tarifgebunden sind. Die Regierungen von Staaten, in denen weniger als 70 Prozent der Lohnabhängigen nach Tarif bezahlt werden – das betrifft auch Deutschland und Lettland - sollen einen Aktionsplan vorlegen, wie der Anteil der Tariflöhne erhöht werden kann. Zudem fordert der EGB, Ausnahmen von den Mindestlohnbestimmungen zu beseitigen.

UB


 
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