Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Eine Geigerin des Orchesters Sinfonietta Riga kündigte wegen russischer Musik
01.04.2023


Litauens Kulturminister: “Wir müssen das Bild von der großen russischen Kultur auslöschen”

Normunds Sne, Foto: Saeima, CC BY-SA 2.0, Saite

Nachdem russische Truppen im letzten Jahr ukrainisches Territorium besetzten, wurde auch die Kultur zum Schlachtfeld. In Deutschland wurden die Verträge mit russischen Künstlern gekündigt, wenn sie nicht Putin absagten. Ein umstrittener Höhepunkt war die Verleihung des sogenannten „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ an den ukrainischen Dichter Serhij Zhadan, der in seiner Dichtung Russen als „Horde“, „Verbrecher“, „Tiere“ und „Unrat“ bezeichnete, denen er wünscht: „Brennt in der Hölle, ihr Schweine.“ Gastkommentator Franz Alt fragte: „Sind wir tatsächlich so weit gekommen, dass ein Völkerhasser den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen muss?“ (taz.de) Der größte Teil der Kultur(industrie) hat sich auf ukrainischer Seite regierungskonform positioniert. In Lettland sorgt derzeit eine Geigerin für Aufsehen, die keine russische Musik spielen will.


“Ich bin nicht in der Regierung des Landes, ich kann die großen Dinge nicht beeinflussen. Wir haben Amtsträger, Diplomaten, die die ganze Zeit unaufhörlich versuchen, die Amtsträger anderer Länder davon zu überzeugen, dass Waffen schneller geliefert werden, dass die Sanktionen erfüllt werden müssen. Ich habe das Gefühl, dass wir auf dem Felde der Musik gerade das Gegenteil machen, wir begeben uns mit russischer Musik auf Tournee, damit machen wir sie auch populär, ob wir wollen oder nicht, aber das bedeutet die Popularisierung dieser Kultur in einer Zeit, in der sie meiner Meinung nach derzeit schweigen sollte; dieser Kultur droht damit nicht der Untergang.” So begründete eine Geigerin des prominenten Orchesters Sinfonietta Riga gegenüber LSM ihre Kündigung, die in den lettischen Medien für Aufmerksamkeit sorgt. 14 Jahre lang war sie Mitglied von Sinfonietta Riga gewesen. Sie hatte zunächst um unbezahlten Urlaub gebeten, um, “solange in der Ukraine Granaten explodieren und Menschen sterben”, keine Werke russischer Komponisten spielen zu müssen, doch der wurde ihr vom Dirigenten Normunds Sne verwehrt. Laut einer Chat-Umfrage im Orchester sind ihre Kolleginnen und Kollegen in dieser Frage gespalten. Elf sympathisieren mit ihrer Haltung, aus Gewissensgründen keine russische Musik einüben zu wollen, acht sind entgegengesetzter Auffassung, drei wollen den Boykott auf zeitgenössische russische Komponisten beschränken.  


Normunds Sne hatte in der Diskussion mit seinen Musikern erklärt, dass er das Programm nicht ändern werde und russische Komponisten im Repertoire bleiben. Er hält die Auswahl der Musikstücke für seine Entscheidung: “Die Leute wissen, wo sie arbeiten. Sie kennen mich, wissen, welche Prinzipien ich bei der Auswahl des Repertoires habe, dass ich versuche, so offen zu sein, wie es möglich ist. Und russische Musik ist nicht eine Art Kollektivmusik, jeder Komponist ist in seiner Einstellung unterschiedlich, mit seiner Botschaft oder gerade im Gegenteil: Musik ist einfach Kunst, die keine bestimmte Botschaft hat. Wir spielen keine Musik, die sich auf der Zusammenarbeit mit dem Regime stützt oder Putins Macht rühmt und dergleichen, das bezieht sich sowohl auf die Musik der Vergangenheit als auch auf die Musik, die heutzutage geschaffen wird.”  


Der Dirigent hatte der Geigerin, die 14 Jahre lang Mitglied des Orchesters war, keinen unbezahlten Urlaub genehmigt: “Ich kann nicht mit der Praxis anfangen, den Musikern zu gestatten, sich auszuwählen, welches Programm sie spielen und welches nicht. Das kann man sich in einem Freelance-Orchester erlauben, in einem Orchester von Freiberuflern, das zu irgendeinem Projekt zusammenfindet und wo der einzelne entscheidet, ob er sich am Projekt beteiligt, wir hier sind bei der Arbeit.”  


Anete Toca, Geschäftsführerin des Orchesters, hält den Protest gegen das Repertoire ebenfalls für unbegründet, weil er nicht dazu beitrage, den Krieg zu gewinnen und dem ukrainischen Volk nicht helfe. Sinfonietta Riga habe unzählige Male seit Kriegsausbruch - gemeint ist der 24. Februar 2022 - vor der ukrainischen Botschaft gespielt. Die Entscheidung der Geigerin kommentiert Toca folgendermaßen: “Diese Musikerin hat auch gar keinen Ausweg gesucht, denn wir gaben ihr noch Zeit und versuchten sie auch von diesem Entschluss abzubringen, denn das ist ein sehr großer Entschluss; doch den künstlerischen Leiter deshalb um unbezahlten Urlaub zu bitten, weil mir heute nicht gefällt, Tschaikowski zu spielen, aber vielleicht mir morgen nicht gefallen wird, dass ein Lutheraner zur katholischen Kirche geht. Das ist eine Sache, die wir nicht dulden können, denn das ist eine Grenze, an der wir sagten: Nein, wir können einem unbezahlten Urlaub nicht zustimmen.”


Nauris Puntulis, lettischer Kulturminister, will sich in dieser Angelegenheit nicht einmischen. Als Nationalkonservativer äußert er allerdings Sympathien für den Entschluss der Geigerin, die für ihre Gewissensentscheidung einstehe. Er hätte ihr unbezahlten Urlaub genehmigt: “Wir erhalten regelmäßig unbezahlten Urlaub bei bestimmten Programmen. Das ist eine alltägliche Praxis, denn die Leute arbeiten auch anderswo, zuweilen wird nicht einmal nach dem Grund gefragt, bevor der unbezahlte Urlaub gestattet wird.” Puntulis selbst würde als Veranstalter alles Russische streichen und ein Moratorium verhängen, doch er bekennt auch: “Es ist die Entscheidung der Leitung einer jeden Institution, möglicherweise Gespräche mit dem Personal zu führen und am Ende einen Beschluss zu fassen; ich denke, es wäre völlig falsch, wenn ich mich in diesen Prozess politisch einmischte.”


Die ukrainische Regierung hatte vor Weihnachten westliche Kulturveranstalter dazu aufgerufen, russische Autoren aus dem Programm zu streichen, solange der Krieg andauert. Doch nicht nur Sinfonietta Riga, auch andere lettische Orchester haben russische Komponisten weiter im Programm, die lettische Nationaloper beispielsweise sieben, davon vier von Tschaikowski. Sandis Voldins, Mitglied der Opernleitung, meinte, dass sich seine Institution seit dem 24. Februar 2022 mit dem ukrainischen Volk solidarisch gezeigt habe. Einem Mitarbeiter, der den “Krieg unterstützte”, sei gekündigt worden. Zudem wollen die Musiker keine weiteren russischen Musikwerke einstudieren, statt dessen wurde der ukrainische Komponist Alexander Rodin ins Programm aufgenommen. Ein Ballett-Werk von ihm hat am 20. April 2023 in Riga Premiere. In der Nationaloper und in anderen Orchestern des Landes ist nicht üblich, dass die musikalischen Leiter die Werkauswahl mit ihren Musikern besprechen.


Im Nachbarland Litauen folgt Kulturminister Simonas Kairys der ukrainischen Forderung und schlägt in seinem Land eine härtere Gangart ein. Er lässt überprüfen, ob litauische Veranstalter noch russische Autoren und Komponisten im Repertoire haben. Die litauische Nationaloper verbannte bereits die Klänge Prokofjews und Strawinskis aus dem Orchestergraben und von der Ballettbühne. Doch das litauische Kulturministerium veröffentlicht keine Informationen, ob aufgrund politischer Beschlüsse Aufführungen untersagt wurden. Kairys begründet seine Politik auf folgende Weise: “Wenn mich jemand fragt, was uns mit der russischen klassischen Kultur verbindet, dann ist das für mich keine wichtige Frage. Das ist eine absolut unbedeutende Frage. Eine wichtige Frage ist, wie wir weiter den Ukrainern helfen und, wenn wir ihnen helfen und Schulter an Schulter agieren, um jegliche Hilfe auf dem Schlachtfeld zu reichen, weshalb wir diese Zeit nicht nutzen, um uns einander besser kennenzulernen. Daher denke ich, dass es der richtige Zeitpunkt ist, anlässlich der Situation in der Ukraine auf uns selbst zu schauen und stärker zu werden, nicht nur über Waffen sprechend, sondern auch über unsere Kultur.”


Und Kairys erläutert auch, wohin ihn diese kulturelle Nabelschau führt, sich inkohärent in Rage redend: “Wir müssen das Bild von der großen russischen Kultur auslöschen. Meiner Meinung nach ist das die große spezielle Mission der baltischen Länder. Und wir haben eine Geschichte, wir kennen Russland sehr gut. Deshalb ist es unsere Mission, der ganzen Welt die Augen zu öffnen, denn im Hinblick auf den russischen Angriff in der Ukraine sprechen wir nicht über ein Jahr, sondern über eine viel längere Periode. Und zunächst versuchen sie einfach unseren Verstand mit Desinformation zu vergiften, mit dem Einfluss der Kultur, mit gefälschten Geschichtsfakten usw. Und danach treffen sie mit Waffen auf unseren Territorien ein. Wir versuchen, ein moralischer Kompass zu sein, dem man folgt, und manchmal ist es wirksamer, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Und dann siehst du das Ergebnis, denn wenn du Klarheit willst, musst du nach Moskau oder Minsk fahren, dort ist alles klar.”


Der Musikhistoriker Boriss Avramecs hält so manche Entscheidungsträger in dieser angespannten Lage für überfordert. man müssen versuchen, das Kunstwerk unabhängig von seinem Urheber zu betrachten: “Leider versuchen manche Menschen in dieser tragischen Situation, in der fürchterlichen Kriegszeit, sei es nun, weil sie deprimiert oder gestresst sind, irgendwelche repressiven Beschlüsse zu fassen, ob jene nun Menschen sind, welche irgendwelche hohen Ämter innehaben und die auch die Möglichkeit haben, das zu verbieten, indem sie Anweisungen oder irgendwelche Befehle erteilen oder andere, die fordern, etwas zu zerstören oder zu verbieten. Mir scheint, das darin immer eine verborgene oder offene, sehr gefährliche Tendenz des Spaltens und Vernichtens liegt, denn das Destruktive, das ist fast in allen Fällen von Übel.”


Udo Bongartz 




 
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