TV-Dokumentation zur Ausstellung: „Ungewöhnliche Seelen. Symbolismus in der baltischen Kunst“
08.05.2021
Wie die Neugier auf das Fremde zu eigenem Schaffen inspiriert
Rudolfs Perle (1875–1917). Saule. 1916, Foto: LNMM, Normunds Braslins
Am 4. Mai 2021 schloss diese Ausstellung als baltisch-französische Koproduktion endgültig ihre Tore. Die Präsentation lettischer, litauischer und estnischer Malerei der Zeit zwischen 1890 und 1930 befand sich zuletzt im Lettischen Nationalen Kunstmuseum. In Riga fanden allerdings nur etwa 8.000 Besucherinnen und Besucher die Gelegenheit, sich eine der größten internationalen Darbietungen des Baltikums anzuschauen. Wegen der Pandemiebestimmungen blieb das Museum monatelang geschlossen; in den letzten Wochen hatten nur angemeldete Gäste Zugang. Die Ausstellung war zuvor in Vilnius und Tallinn gezeigt worden. Die erste Vernissage mit Schirmherrn Emmanuel Macron fand aber schon vor zwei Jahren, am 9. April 2018 in Paris, im renommierten Museum d`Orsay, statt. Damals waren auch die Staatspräsidenten der baltischen Länder anwesend. In den folgenden Wochen betrachteten fast 240.000 Besucher die Werke ungewöhnlicher Seelen des Baltikums. Für viele Westeuropäer bedeutet die baltische Kunst eine Wiederentdeckung. Sie gilt als Terra Incognita, als unbekanntes Gebiet, weil sie jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden war. Regisseurin Linda Veinberga präsentierte am 6. Mai 2021 auf LTV ihren Film zur Ausstellung.
Die lettische Projektleiterin Ginta Gerharde-Upeniece begrüßt Veinbergas Dokumentation. „Die Ausstellung zeigt, dass sich die baltische Kunst im Zeitalter des Symbolismus` unzweifelhaft auf europäischem Niveau befunden hat. Wir sind dem Lettischen Fernsehen dankbar, dass es sich damals nach Paris, ins Museum d`Orsay begab, um über die Veranstaltungen des Ausstellungsprogramms, über die diplomatischen Besuche und Ansprachen der Präsidenten zu berichten, auch die Ereignisse in Tallinn und Vilnius zu verfolgen und als Ergebnis es geschafft hat, aus vielen Mosaikteilen einen Film zusammenzustellen, der als visuelles Zeugnis über dieses herausragende Projekt den baltischen Ländern und uns allen erhalten bleiben wird,“ meint Gerharde-Upeniece in einer LNMM-Presseerklärung. Der Film konzentriert sich auf die lettische Malerei, beschreibt anhand ausgestellter Bilder deren Entstehung und Entwicklung in den ersten Jahrzehnten. Spezialistinnen und Spezialisten erläutern die Bedeutung des Gezeigten.
Der Begriff „Symbolismus“ bietet sich als Thema an, um einen möglichst umfassenden Einblick ins Kunstgeschehen der vorletzten Jahrhundertwende zu präsentieren. Diese Kunstströmung umfasst vielfältige Stilrichtungen, deren Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, nicht unmittelbar Realität abzubilden. Ein Kennzeichen lettischer Maler jener Zeit war ihre stilistische Vielfalt, die vor allem im Symbolismus zum Ausdruck kam. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts emanzipierten sich die baltischen „Undeutschen“ allmählich von der deutschbaltischen Oberschicht und von der zaristischen Herrschaft. Sie eigneten sich Bildung an, häufig autodidaktisch; manche lettische Söhne hatten das Glück, mit Hilfe eines Stipendiums ein Studium beginnen zu können. Wer die bildende Kunst erlernen wollte, musste zur Petersburger Kunstakademie, deren Dozenten neoklassizistisch orientiert waren. Aus Protest zu solchen antiken Stil-Konventionen gründeten demokratisch gesinnte Künstler die Peredwischniki-Bewegung, die einen russischen Realismus entwickelte, der das Alltagsleben der Untertanen abbildete. Aus ähnlicher Motivation gründeten lettische Kommilitonen in Petersburg 1891 die Gruppe „Rukis“ (Zwerg), um eine spezifisch lettischen Ausdruck moderner Malerei zu gestalten. Zu diesem Kreis gehörten prominente Vertreter wie Johans Valters, Vilhelms Purvitis und Janis Rozentals. Im Rahmen eines russischen Archäologiekongresses in Riga 1896 organisierte die Gruppe eine ethnographische Ausstellung zum Thema Lettland. Für die Kunsthistorikerin Edvarda Smite beginnt erst mit der Gründung von Rukis die lettische Malereigeschichte.
Janis Rozentals steht exemplarisch für stilistische Vielfalt, seine Bilder hatten zunächst realistische und später symbolistische Züge. Vergleicht man die Unterschiede zwischen seiner akademischen Abschlussarbeit „Nach dem Gottesdienst“ von 1894 und Bildern wie „Teufelsfamilie“ von 1905, „Italienische Landschaft“ von 1915 oder „Arkadien“ von 1916, so zeigt sich nicht nur seine handwerkliche, sondern auch seine weite thematische Variabilität. Die Maler dieser Generation übten sich in unterschiedlichen Genres, unternahmen Reisen nach Berlin, Wien und Rom, um andere Städte, Landschaften, südliches Licht und ausländische Kunst kennenzulernen. Das künstlerische Mekka war allerdings Paris und so zeigen sich so manche Parallelen zwischen baltischer und französischer Malerei, die in der Ausstellung deutlich werden.
Der symbolische Bezug bedeutet, dargestellte Gegenstände mit zusätzlicher Bedeutung auszustatten, sie bringen seelische Befindlichkeit zum Ausdruck, als inneres Porträt des Malers. Eine Expertin erläutert, dass Vilhelms Purvitis mit seiner spezifischen Abbildung des Vorfrühlings und Spätsommers mit weißen Schnee- und blauen Wasserflächen, kahlen rotbraunen Birkenwäldern seine eigenen Seelenlandschaften dargestellt hat. Er sah in der lettischen Landschaft das, was er sehen wollte. So prägte er einen Archetyp lettischer Landschaft, der seine Landsleute bis heute beeinflusst. Deutlich fantastischer waren die Vorstellungen Rudolfs Perles. Er entwarf ebenso anmutige wie befremdliche Landschaften, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Sein schemenhaft in rötlich-gelben Farben skizziertes „Schloss der Wunder“ von 1915 erscheint wie ein Traum, von dem man nicht weiß, ob er Erfüllung oder Schrecken bereithält. Ähnlich überirdisch wirkt das Bild „Fantastische Landschaft“ von Emilija Gruzite, eine der ersten lettischen Frauen, die sich mit Kunst beschäftigten, beschäftigen durften.
Die Wechselbeziehungen zwischen französischer und lettischer Malerei haben eine lange Tradition. Bereits 1909 waren in Riga die Bilder französischer Maler zu sehen, 1939 konnten sich Pariser lettische und Rigenser französische Malerei in ihren Museen anschauen. In der lettischen Hauptstadt fanden auch zahlreiche Ausstellungen der baltischen Nachbarn statt. Die Filmemacherinnen stellen sich selbstkritsch die Frage, ob sich aus der Darstellung einer vergangenen Epoche überhaupt Neues ergeben kann. Vielleicht wäre die Erkenntnis ein mögliche Antwort, dass sich internationaler Austausch und spezifischer nationaler Ausdruck nicht ausschließen, sondern das eine zur Entwicklung des anderen beiträgt. Kenntnis der anderen, Kontakt und gleichberechtigter Austausch mit ihnen stellen keine Bedrohung dar, sondern eine Bereicherung, eine Inspiration für das eigene spezifische Schaffen, das die Vielfalt in der Welt vergrößert, statt, wie so oft befürchtet, sie zu vermindern und zu vereinheitlichen. Veinbergas lettische Dokumentation ist in der LTV-Mediathek zu finden (ltv.lv). Eine Übersetzung in andere Sprachen wäre wünschenwert.
UB
Atpakaï