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"Housing-First-Projekt" soll in Lettland Obdachlosen helfen
26.11.2022


"Es ist einer Gesellschaft unwürdig, dass Menschen einsam am Wegesrand sterben"

Schlafstelle eines Obdachlosen, Foro: Dmitry_G, Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link

Nach der Angst vor Krankheit und Tod bildet die Furcht vor dem Verlust der eigenen Wohnung eines der größten Bedrohungsgefühle für den Menschen. Lieber übernimmt er die schlecht bezahltesten Jobs, erträgt Mobbing und Stress, erledigt Lohnarbeit auf Anweisungen, die er für sinnlos hält, als das Dach über den Kopf zu verlieren. Auf den Straßen der Städte, unter den Brücken und Unterführungen, wo es nicht ganz so kalt wird, sieht er das Elend, was ihn sonst erwartet: Hier stehen, kauern oder liegen die Gestrauchelten, die ihre übrig gebliebene Habe in Plastiktüten verstaut haben. Vor ihnen ist der Becher postiert, in dem sich ein paar Münzen befinden. Manche scheinen wie leblos; leichter Atem verrät, dass noch Leben in ihnen steckt. Befinden sich geleerte Schnapsflaschen oder Bierdosen in der Nähe, könnte Trunkenheit den erstarrten Zustand erklären. Alkohol als letztes Mittel, das noch wärmt, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. In Lettland vegetieren schätzungsweise mehrere tausend Menschen auf der Straße oder in Notunterkünften. Bislang kümmerten sich Regierung und Kommunen kaum darum, den Obdachlosen eigenen Wohnraum zu besorgen. Doch seit Mai 2022 organisieren Riga und Liepaja ein Pilotprojekt nach dem Housing-First-Prinzip, das 100 Obdachlosen die Aussicht auf ein besseres Leben ermöglichen soll.


Laut Angabe des Gesellschaftlichen Integrationsfonds (SIF), der dem Sozialministerium unterstellt ist, übernachteten 2020 in den lettischen Obdachlosenunterkünften 5760 Personen, davon 80 Prozent in Riga (sif.gov.lv). Liepaja registrierte 365 und Daugavpils 191 Obdachlose, die in kommunalen oder kirchlichen Asylen übernachteten. Nach Angaben des Rigaer Sozialdezernats betrug die Zahl der Personen, die im September 2022 in städtischen Unterkünften schliefen, durchschnittlich 532, das sind 48 weniger als im September des Vorjahres, Ende Oktober 2022 waren aber schon 592 Obdachsuchende pro Nacht auf eine Bleibe im Bett einer Massenunterkunft angewiesen. Zudem finanziert oder unterstützt die Stadt Tagesstätten und Suppenküchen. Zaiga Puce, die das SIF-Sekretariat leitet, hält die Obdachlosigkeit für das sichtbarste Zeichen für Armut und Ausgeschlossenheit: "Das Wohnungsproblem ist wesentlich, oft haben die Obdachlosen keine gültigen Ausweispapiere und nicht einmal einen Personen-Code [eine Nummer, die die lettischen Behörden jedem registrierten Einwohner ausstellen]. Weit verbreitet ist das Problem der Alkoholabhängigkeit. Außerdem kennzeichnen Obdachlose häufig geringe Fähigkeiten für soziale Beziehungen und Kontakte, welche mit Trennung oder mit Konflikten in der Familie verbunden sind, aber auch mit dem Fehlen wichtiger Beziehungen im Leben. Damit beeinflussen diese Kontaktschwierigkeiten negativ die Fähigkeit, sich um die eigenen Grundbedürfnisse zu kümmern."


Ieva Arklone veröffentlichte 2019 im Auftrag des staatlichen Bürgerrechtsbüros eine Studie zur Lage der Obdachlosen in Lettland im Vergleich zu anderen EU-Ländern (tiesibsargs.lv). Sie bat lettische Behörden um Stellungnahmen. Die Juristin folgerte aus den Rückmeldungen, dass Regierung und Kommunen das Problem seit Jahrzehnten vernachlässigen, zu wenige Daten erheben, überhaupt fehle eine Strategie. Die Zahl der Betroffenen kann nur geschätzt werden und ebenso unklar bleibt, wie groß der Bedarf an geeigneten, vor allem bezahlbaren Wohnungen ist. Sie kritisiert, dass städtische Wohnkomplexe privatisiert wurden und nun fehlen den Kommunen Immobilien, die sie kostengünstig zur Verfügung stellen könnten. Private Unternehmer haben kein Interesse, für Menschen ohne Geld Wohnungen zu bauen. Arklone fordert, Sozialwohnungen zu planen. Sechs Prozent aller lettischen Einwohner müssen mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für die Wohnung aufbringen, was nach Eurostat-Angaben die Grenze für zumutbare Wohnkosten darstellt; fast ein Drittel der lettischen Einwohner hat Schwierigkeiten, Wohnkosten zu finanzieren. Die soziale Ungleichheit, die sich am Einkommen misst, spaltet nicht nur die Gesellschaft, sondern benachteiligt Arme existenziell, die bei der Konkurrenz um Wohnraum nicht mithalten können. Besonders betroffen sind Erwerbslose, Rentner und Behinderte.  


Arklone bemängelte, dass in den staatlichen und kommunalen Papieren kein Plan zu finden ist, der den Betroffenen ermöglicht, ihre miserable Situation zu ändern: "In allen Dokumenten der Politik und in Rechtsbeschlüssen wird das Problem der Obdachlosigkeit auf die Bereitstellung von Nacht- und Notunterkünften reduziert. Es sind keine politischen Maßnahmen aufgeführt, die den Umzug der Obdachlosen aus der Notunterkunft in betreute Wohnformen und später in eine eigene Wohnung vorsehen."


Projekte, die bezwecken, Obdachlosen wieder das Leben in eigenen Räumen zu ermöglichen, stammen aus den USA und Kanada, wo sie Housing First genannt werden. Das Konzept hat Europa erreicht; Finnen, Schweden und Deutsche erproben es und seit Mai organisieren auch Riga und Liepaja ein Pilotprojekt für 100 Obdachlose. Größtenteils finanziert mit Mitteln des EU-Sozialfonds erhalten die Kommunen pro Betroffenen 3000 Euro jährlich; das scheint Martins Moors, Vertreter des Rigaer Sozialdezernats, eine zu geringe Summe. "Man muss kein Experte für den Wohnungsmarkt sein, um zu begreifen, dass das viel zu wenig ist. Das ist weniger als die Hälfte des Erforderlichen. Riga ist sich dessen bewusst. Den Kollegen, die sich mit gesellschaftlicher Integration beschäftigen, ist das bewusst." (lsm.lv)


Liga Rasnaca, die soziale Ungleichheit und Armut erforscht, ist dennoch der Ansicht, dass man es versuchen müsse, weil die Menschen wieder aufblühen, wenn sie eine Wohnung haben. Sie hält das Projekt für besser als nichts. Ob es erfolgreich wird, kann sie nicht voraussehen; das Problem Obdachlosigkeit könne man nicht an einem Tag lösen, auch nicht in wenigen Monaten, das erfordere Jahre und sei sehr schwierig zu lösen. "Aber falls es auch nur 100 Menschen gelingen wird, dieses Problem zu lösen, oder auch nur die Hälfte von den 100, dann wird es sehr gut sein." Rasnaca rät, anderthalb Jahre zu warten, bis die Ergebnisse vorliegen.


Das Schicksal von Obdachlosen beschäftigt die Öffentlichkeit nur am Rande. Zwei Meldungen der letzten Zeit machen es zum deutsch-lettischen Thema, wobei sich die Gleichgültigkeit jener zeigt, die in den Behörden die Entscheidungen treffen. In der Nacht zum Sonntag, dem 21. November 2022, starb ein 39jähriger lettischer Staatsbürger im Hauptbahnhof Hannover. Er wollte bei Minustemperaturen dort übernachten. Bundespolizisten fanden ihn am frühen Morgen; es gelang ihnen nicht mehr, den Mann wiederzubeleben. Er ist wahrscheinlich der erste Kältetote in diesem Jahr in der niedersächsischen Hauptstadt. Der örtliche Diakoniepastor Friedhelm Feldkamp betrachtet es als "einer Gesellschaft unwürdig, dass Menschen einsam am Wegesrand sterben". Er fordert, alles zu tun, um die "Situation der Wohnungslosen zu verbessern". (evangelisch.de)


Die Frankenpost berichtete im Juni 2022 über das Los eines jungen Syrers aus Oberfranken, der auf seinem Schulweg an der Bushaltestelle von der Polizei festgenommen und wenige Tage später nach Lettland abgeschoben wurde (offenbar hatte er dort erstmals EU-Territorium betreten, so dass eigentlich Lettland zuständig ist). Er lebte schon seit mehreren Jahren mit seiner Familie in Bayern (frankenpost.de). Folgt man dem Bericht, bestand für die örtliche Zentrale Ausländerbehörde kein akuter Anlass, ihn des Landes zu verweisen. Der Junge galt als gut integriert. Ihm blieb nicht einmal Gelegenheit, sich von den Eltern zu verabschieden. In Lettland angekommen verweigerten ihm die Behörden jegliche Unterstützung. Die ersten Nächte verbrachte er auf einem Rigaer Friedhof. Ein Pfarrer aus einem bayrischen Nachbarort finanziert ihm nun den Aufenthalt in einem Rigaer Hostel, die deutsche evangelisch-lutherische Kirche betreut ihn. Zwar hat er inzwischen in Lettland eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, doch weiterhin keine finanzielle Unterstützung. Der bayerische Helfer zitiert offenbar lettische Stimmen: „Die sagen, wir kriegen ja nicht einmal unsere eigenen Leute durch.“ Diese Begründung mag bezweifelt werden; die lettischen Behörden wären gewiss zuvorkommender, hätte der Syrer einen ukrainischen Pass. Und die deutsche Ausländerbehörde will ihm die Kosten für die Abschiebung in Rechnung stellen - die Praxis, die Kosten einer erlittenen Strafe dem unschuldigen Opfer aufzubürden, erinnert an düsterste Zeiten.


Udo Bongartz 




 
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