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Lettland: Vor der Wahl zur 14. Saeima liegt die Partei des Ministerpräsidenten Krisjanis Karins klar vorn
10.09.2022


Wahlforscher rechnen mit geringer Wahlbeteiligung

SKDS-Wählerumfrage vom August 2022

Krisjanis Karins hat gute Chancen, nach der Saeima-Wahl am 1. Oktober 2022 weiter zu regieren. Derzeit führt seine Partei Neue Einigkeit (JV) mit 15,1 Prozent die SKDS-Wählerumfrage an (lsm.lv). Momentan stellt sie noch die kleinste Regierungsfraktion, die 2018 lediglich 6,7 Prozent der Wählerstimmen erhielt. Karins kam als Kompromisskandidat ins Amt, weil sich die größeren Regierungsparteien nicht auf einen eigenen Kandidaten einigen konnten. Der 1964 in Wilmington/USA geborene Sohn lettischer Emigranten regierte am Anfang mit fünf Parteien; die größte unter ihnen, “Kam pieder valsts?” (KPV, Wem gehört der Staat?), die als Neugründung gleich mit 14,3 Prozent der Wählerstimmen die Parlamentssitze eroberte, zerlegte sich rasch auf der Grundlage eines Programms, das wohlfeile Parolen mit einem dürftigen Konzept verband. Ein Teil der ehemaligen KPV-Abgeordneten verhelfen der Karins-Regierung aber weiterhin zu Mehrheiten. Obwohl Karins gute Aussichten hat, mit neuen Koalitionspartnern weiter zu regieren, wünschen sich die Wähler den politischen Wechsel, der in Lettland unter den derzeitigen Bedingungen allerdings kaum herbeizuführen ist.


Neue Einigkeit ist eine wirtschaftsliberal ausgerichtete Partei, die maßgeblich für die lettische Politik nach der Finanzkrise verantwortlich war (LP. hier). Offenbar vertraut ein Teil der Wähler der langjährigen Regierungserfahrung in innen- wie außenpolitisch turbulenten Zeiten. Abermaliger Koalitionspartner könnte die Nationale Allianz (NA) werden, die sich mit unversöhnlichen Standpunkten gegenüber der russischsprachigen Minderheit immer wieder hervortut. Ihre Vertreter stellten in den letzten Monaten eine Verbindung zwischen dem antifaschistischen Siegesdenkmal in Riga-Pardaugava und dem russischen Angriffskrieg her, als ob Verteidiger des Denkmals zwangsläufig auch den Krieg befürworteten (LP: hier). Seitdem der heutige EU-Kommissar Valdis Dombrovskis die Nationalkonservativen 2012 in seinem Regierungskabinett aufnahm, haben sie erheblichen Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit. Die NA ist sich mit den übrigen rechtsliberalen und nationalkonservativen Regierungspartnern einig, die größte Fraktion, die Saskana, von der Regierung auszuschließen. Die Saskana-Abgeordneten gelten als Vertreter der russischsprachigen Minderheit. Bis zum 24. Februar 2022 war sie stets führend in den Wählerumfragen. Inzwischen ist sie mit 10,1 Prozent auf den dritten Platz abgerutscht. Meinungsforscher vermuten, dass ein Teil der Saskana-Wähler der Partei verübelten, den russischen Angriffskrieg verurteilt zu haben (LP: hier). Was in der lettischen Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Im Gegensatz zu den weitgehend wirtschaftsliberal orientierten Regierungsparteien vertritt Saskana sozialdemokratisch-keynesianische Ansätze.  


Auch die oppositionelle Union der Grünen und Bauern (ZZS) könnte unter bestimmten Umständen in die nächste Regierungsbildung einbezogen werden. Sie kommt derzeit auf 9,5 Prozent - weniger als 2018, wo ein Ergebnis unter zehn Prozent für die Partei, die damals den Ministerpräsidenten stellte, schon eine Enttäuschung war. Viele misstrauen dem Parteienbündnis, das die Grünen inzwischen verlassen haben; die ZZS hat nun die Splitterpartei der lettischen Sozialdemokraten als Partner der Bauernpartei aufgenommen, behält aber den Namen. Die ZZS gilt als Oligarchenfraktion, weil sie enge Verbindungen zu Aivars Lembergs pflegt, den sie auch diesmal zum Spitzenkandidaten gekürt hat. Der Politiker und Geschäftsmann hat seine Fans und seine Feinde. Ein Gericht verurteilte ihn im letzten Jahr in erster Instanz wegen Korruption zu fünf Jahren Haft. Seine Anwälte erreichten die Freilassung, so dass Lembergs, langjähriger Bürgermeister von Ventspils, nun wieder in der Politik mitmischt (LP: hier). In den letzten Jahren rutschte die ZZS in Umfragen bis auf sechs Prozent ab. Mit Lembergs als Spitzenkandidaten befindet sie sich wieder im Aufwind. Die ZZS hat als Nachfolger der Bauernpartei des Staatsgründers und späteren Diktators Karlis Ulmanis eine nationalkonservative Ausrichtung; sie agiert aber weniger ideologisch als die NA; während die übrigen lettischen Parteien eine strikt transatlantische Politik verfolgen, scheinen ZZS-Politiker distanzierter gegenüber US-Forderungen. Lembergs wünscht keine allzu schlechten Beziehungen zu Russland, auch aus geschäftlichen Gründen.


Die Progressiven stellen eine Neuheit dar, da sie sich als linke, sozialdemokratische Kraft nach skandinavischem Muster beschreiben. Bei der letzten Wahl verfehlten sie die 5-Prozent-Hürde noch deutlich; derzeit erreichen sie in der SKDS-Umfrage 8,8 Prozent und dürften mit Sicherheit der kommenden Saeima angehören. Auch die Vereinigte Liste, auf der sich die konservativ orientierten lettischen Grünen mit Regionalparteien zusammengeschlossen haben und das liberale Regierungsbündnis Für Entwicklung/Pro, das nur noch auf 7,8 Prozent kommt - 4,3 Prozent weniger als bei der letzten Saeima-Wahl - werden voraussichtlich Abgeordnete stellen. Weitere fünf Parteien müssen um den Einzug bangen. Lettlands Union der Russen kommt auf 4,7 Prozent. Die Konservativen, die noch mitregieren, die 2018 mit 13,6 Prozent als drittstärkste Partei ins Parlament einzog, stürzen auf mittlerweile 4,6 Prozent ab. Ainars Slesers, der ehemalige Verkehrsminister, der von seinen Gegnern ebenfalls als Oligarch bezeichnet wird, hat eine neue Partei gegründet: Derzeit rangiert Lettland auf dem ersten Platz allerdings mit 3,5 Prozent ebenso unter ferner liefen wie Jedem und Jeder des notorischen und umstrittenen Parteiengründers Aldis Gobzems mit 3,7%. Ein Überraschungserfolg könnte Für Stabilität! erzielen. Die Partei wurde im letzten Jahr gegründet und kommt laut Umfrage auf 5,5 Prozent. Sie bezeichnet sich als zentristisch, will linke und rechte Positionen vereinbaren, Nichtbürger an Wahlen beteiligen und ist EU-skeptisch.


Die Prozentzahlen für die Parteien und Bündnisse werden deutlich geringer, wenn man die “Partei der Nichtwähler” einbezieht. Im Gegensatz zu deutschen Wahlforschungsinstituten nennt das SKDS auch diese Werte. Dann kommt Tabellenführer Neue Einigkeit nur auf 8,3 Prozent. 14,3 Prozent der Befragten sagten aus, sich gewiss für keine der zur Wahl stehenden Parteien zu entscheiden, weitere 25,2 Prozent wussten es nicht. An der kommenden Wahl wollen 35 Prozent bestimmt und 34 Prozent wahrscheinlich teilnehmen. Diese Werte sind geringer als 2018. Damals beteiligten sich schließlich nur 55 Prozent am Gang zur Wahlurne; diesmal könnte die Wahlbeteiligung noch geringer ausfallen.  


SKDS-Leiter Arnis Kaktins begründet diese Wahlverdrossenheit mit der besonderen politischen Situation Lettlands: Das Wahlvolk ist ethnisch gespalten und stimmt für Parteien, die die eigene Ethnie repräsentieren, statt nach politischer Ausrichtung. Parteien, die die 5-Prozent-Hürde fürchten müssen, haben die Möglichkeit, sich mit anderen Parteien zu Wahllisten zusammenzuschließen. Unter diesen Umständen kommt keine politische Alternative an die Regierung, weil ein Reigen wirtschaftsliberal und nationalkonservativer Parteien in wechselnden Bündnissen die sozialdemokratische Opposition in Schach hält, so dass sich die Politik, von Nuancen abgesehen, kaum ändert; es bleibt stets der alte Wein in neuen Schläuchen. Kaktins sagte dazu im Interview mit der LSM-Journalistin Odita Krenberga, dass der politische Wechsel in Lettland nicht funktioniert. „Du kannst vielleicht schon [die Abwahl] versuchen, falls dir die an der Macht Befindlichen überhaupt nicht zusagen, aber du weißt schon mehr oder weniger - und die vorhergehenden Wahlen haben es gezeigt - dass Du sie nicht loswerden wirst. Sie werden sich neu verpacken und wieder ihre Sitze einnehmen.“  


Udo Bongartz 




      Atpakaï