Lettisches Centrum Münster e.V.

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Covid-19-Krise: Lettische Krankenhäuser im Notbetrieb
15.10.2021


Nach Litauen weist Lettland nun die höchsten Inzidenzzahlen auf

Lettische Rettungsfahrzeuge sind nur noch für Patienten in Lebensgefahr zugänglich, Foto: Contributor, Eigenes Werk CC BY-SA 3.0, Link

 

Die aktuellen Zahlen alarmieren Politiker und Mediziner: 2142 Menschen wurden am Donnerstag positiv auf Covid-19 getestet, davon waren 1678 nicht bzw. nicht vollständig geimpft. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen übertrifft zum dritten Mal in Folge die 2000-Marke, ein Wert, der noch nie zuvor in Lettland erreicht wurde. Erst am Mittwoch hatte das staatliche Zentrum für Krankheitsprophylaxe und -kontrolle (SPKC) den bisherigen Rekordstand von 2408 verkündet. Der Anteil der Test-Ergebnisse, die sich als positiv herausstellen, beträgt inzwischen mehr als zehn Prozent. Entsprechend entwickelt sich die 14-Tage-Inzidenz. Mit Litauen (972,2) führt nun Lettland (864,4) die europaweite Länderliste der Neuinfektionen an (lsm.lv). Die Regierung verkündete für den 11. Oktober zum dritten Mal pandemiebedingt einen dreimonatigen Ausnahmezustand, den inzwischen das lettische Parlament bestätigt hat. Die Mitarbeiter in den Krankenhäusern und der Rettungsdienste bereiten sich auf harte Zeiten vor, für sie gilt zusätzlich ein spezieller Ausnahmezustand.


LSM-Journalistin Aija Kinca befragte das Führungspersonal der Rigaer Austrumi-Universitätsklinik, eine der beiden Großkliniken der Stadt (lsm.lv). Die Zahl der Covid-19-Patienten hat innerhalb einer Woche um 36 Prozent zugelegt. Die Ärzte erwarten in den nächsten Tagen, dass die Menge an pandemiebedingten Einlieferungen weiter ansteigen wird. Bald könnten sich landesweit wieder mehr als 1000 Covid-19-Kranke in den Kliniken befinden. Experten befürchten für das Monatsende Kapazitätsprobleme. Nach medizinischer Erfahrung dauert es etwa eine Woche, bis sich bei einer Corona-Infektion erste Krankheitssymptome zeigen.  


Der Ausnahmezustand erlaubt der Klinikleitung, Behandlungstermine zu verschieben, Personal in anderen Abteilungen einzusetzen und leichtere Fälle abzuweisen. Techniker bauen gerade Klinik-Räume um, damit mehr Betten für Covid-19-Patienten vorhanden sind, die isoliert aufgenommen und behandelt werden müssen. Die Ärztinnen und Ärzte beobachten, dass sich die Symptome von Schlaganfall und Covid-19 gleichen: Der Sauerstoffmangel des Gehirns führt zu Sprachschwierigkeiten, Dehydrierung bewirkt Müdigkeit. Manch aufgenommener Patient mit Verdacht auf Schlaganfall erwies sich als Covid-19-Kranker. Klinikradiologe Maris Zeps erläutert Kinca einen Befund: “Zu 70 Prozent geschädigt. Wahrscheinlich hat der Patient schwere Atemnot und unzureichenden Sauerstoff. In den letzten Stunden gab es vier Patienten zwischen 50 und 60 Jahren mit sehr schweren Lungenschäden. Ein entsprechend großer Anteil der Lungenveränderungen weist Covid-Merkmale auf.”


Die angespannte Situation belastet auch die Rettungssanitäter, die seit über einem Jahr kaum zur Ruhe kommen. Auf dem Höhepunkt der Infektionswellen müssen sie die Patienten zu fernen Krankenhäusern transportieren und vor den Aufnahmestationen hinter den Fahrzeugen ihrer Kollegen Schlange stehen. Mara Libeka, Journalistin der Zeitung Latvijas Avize, sprach mit der stellvertretenden Leiterin des Nationalen Medizinischen Rettungsdiensts (NMPD), Mara Dirina, über die Arbeit ihrer Kollegen in Corona-Zeiten (la.lv).


Wer den Notruf 113 wählt, kann derzeit nicht sicher sein, dass ihm Hilfe gewährt wird, denn die Mitarbeiter in der Zentrale sollen auswählen. Nur noch in dringlichen und lebensbedrohlichen Fällen wird ein Rettungsfahrzeug geschickt. Eine Schwangere, die nicht mit besonderen Komplikationen zu kämpfen hat, kann nicht mit einem NMPD-Fahrzeug rechnen, ebensowenig Patienten mit Arm- oder Beinverletzungen, solange sie keine starken Blutungen aufweisen. Auch Bauchschmerzen, die nicht mit Erbrechen und Durchfall einhergehen, gelten derzeit nicht als dringlicher Notfall. Wer sich um plötzlich erhöhten Blutdruck sorgt, der noch nicht auf einen Infarkt deutet, diffuse Schmerzen im Rücken oder in den Beinen verspürt, muss sich selbst auf den Weg begeben oder ein Taxi rufen. Zudem bittet Dirina, die Notrufnummer nicht mit Beratungsanfragen zu blockieren.


Nach Beobachtung der Rettungsteams hat sich der durchschnittliche Gesundheitszustand aller Notruf-Patienten seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich verschlechtert. Zwar versichert die Regierung, dass die Termine von Kranken, die auf eine dringende Behandlung angewiesen sind, nicht verschoben werden, doch viele Patienten wurden nicht mehr regelmäßig untersucht oder behandelt, sei es, weil die Praxen und Kliniken ausgebucht waren, sei es aus Furcht vor Infektionen.  


Der NMPD fordert nun viele Patienten auf, sich selbst um ihre medizinische Behandlung zu kümmern. Täglich werden 70 bis 100 Anrufer abgewiesen. Das erzeugt Aggressionen; die Abgewiesenen machen die Sanitäterinnen und Sanitäter verantwortlich und beschimpfen sie. Zudem sieht sich der NMPD in den sogenannten sozialen Netzwerken Verleumdungen und Verdächtungen ausgesetzt. Zum Beispiel kursiert im Internet die Aufforderung, den Rettungsfahrzeugen, die ihr Blaulicht eingeschaltet haben, hinterherzufahren, um zu prüfen, ob ihr Ziel wirklich eine Klinik sei.


Die heikle Lage ist nicht nur der Pandemie geschuldet, sondern hat in der jahrzehntelangen Vernachlässigung der medizinischen Versorgung eine weitere Ursache. Politiker ignorierten die Forderungen der Ärzte, Pfleger und Sanitäter, mehr zu investieren und für bessere Gehälter zu sorgen. Lettland stellte im Verhältnis zum BIP deutlich weniger Geld für Kliniken und Praxen bereit als der Durchschnitt der EU-Länder. Ein Ergebnis davon nennt Dirina: In Riga stehen zehn NMPD-Rettungsfahrzeuge, die nicht eingesetzt werden können, weil das Personal fehlt.


Neben dem medizinischen Ausnahmezustand verkündete die Regierung einen dreimonatigen  für alle Einwohner: Nur Geschäfte für lebensnotwendigen Bedarf (Lebensmittel, Medikamente, Tiernahrung) dürfen ohne Impf- oder Genesungszertifikat betreten werden, Gaststätten und Kneipen nur zwischen 6 und 21 Uhr öffnen. Geschäfte, die für den täglichen Bedarf nicht benötigt werden, sind am Wochenende geschlossen. Kulturveranstaltungen müssen spätestens um 23 Uhr enden. In öffentlichen Räumen gilt die Maskenpflicht. Schulen bleiben geöffnet. Staatliche und kommunale Angestellte müssen sich impfen lassen. Die Regierung wünscht von Privatunternehmern, ihre Mitarbeiter so weit wie möglich im Homeoffice zu beschäftigen. Das Robert-Koch-Institut hat Lettland zum Hochrisikogebiet erklärt, wer von Lettland aus nach Deutschland einreist, muss sich also in Quarantäne begeben.

UB 




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