Latviešu Centrs Minsterē

   

Nachricht des Tages (7.2.07): Regierungs-Big-Brother in Valmiera
07.02.2007


Auf dem Podium - ein V-förmig angeordneter, langer Tisch, davor ansteigende Zuschauerränge, der Ort des Geschehens: der große Saal des Kulturzentrums in der nordlettischen Stadt Valmiera. Kaum etwas lenkt den Blick vom Wesentlichen ab, äußerst spärlich, geradezu minimalistisch die dekorativen Elemente. Fast könnte man meinen, man sei in eine der radikal-provokativen Theaterinszenierungen des Rigaer Regiestars Alvis Hermanis geraten. Aber was den etwa 200-250 Zuschauern am 6. Februar geboten wurde, war schon ein Stück aus einer anderen Welt. Das Publikum merkte es nicht zuletzt daran, daß es beim Zutritt Metalldetektoren passieren mußte. Ein Hauch von Big Brother lag in der Luft, in einer reality show der besonderen Art trat nämlich das lettische Ministerkabinett in einer auswärtigen Sitzung vor den Souverän.
 
Dieser hatte trotz demokratischer Öffentlichkeit allerdings kaum Entfaltungsmöglichkeiten, geschweige denn etwas zu melden. Regierungschef Aigars Kalvitis belehrte die Zuschauer gleich zu Beginn, daß von den Rängen aus keinerlei Fragen an die aus Riga angereiste Politprominenz gestellt werden dürften. Beifall spenden wohl. Und so gab es denn nach der Ankündigung des Premiers, die Direktorin der Staatskanzlei, Gunta Veismane, habe heute Geburtstag, kräftigen Applaus für die Jubilarin, ditto für den vortragenden Leiter des Entwicklungsrates der Region Vidzeme, Nikolajs Stepanovs - "Er hat Geburtstag? Heute? Herzliche Glückwünsche!", betätigte sich A. Kalvitis als Animateur, und das Publikum klatschte, was die Hände hergaben. Mitmachen ist alles, so macht Regieren richtig Spaß.

Die mit soviel politischer Transparenz beglückten Einwohner von Valmiera äußerten sich anschließend über das Geschehen nur mäßig begeistert: "Ich weiß nicht so recht, was die Minister vor der Regierungssitzung getan haben, doch bin ich nicht so richtig überzeugt, daß sie ernsthaft gearbeitet haben", meinte Elftklässler Kristaps Boris. "In der Sitzung sitzen sie alle da und nicken alles ab. Keine Diskussionen, keine Einwände. Man hat das Gefühl, alles sei längst beschlossene Sache, und das Ganze ein formales Treffen zum Abhaken".

Angetaner zeigten sich die befragten örtlichen Unternehmer, doch auch sie ließen eine gewisse Skepsis anklingen: "Es ist sehr gut, daß sie hierherkommen. Es überrascht bloß, daß auf der Sitzung gerade über Valmiera überhaupt nichts gesagt wurde", so Projektleiterin Ina Mikelsone von der Entwicklungsagentur Vidzeme.

Zwar gehörten zu den Requisiten der denkwürdigen Veranstaltung auch die als E-Aktentaschen getarnten gouvernementalen Laptops, aber der Eindruck, daß hier auf höchstem regierungstechnischen Niveau zur Sache gegangen sei, wollte sich letzten Endes nicht so recht einstellen. Zumal der interessanteste und brisanteste Teil der auswärtigen Kabinettssitzung dann doch hinter geschlossenen Türen stattfand - nämlich die Beratungen über die mittelfristige Finanzplanung...

Ach, wie rückständig hatte sich doch das sogenannte alte Europa vor zehn Jahren gefühlt, als plötzlich die baltischen Tiger in den Ring sprangen, Estland das Regieren mit papierner Aktenmappe abschaffte und selbst auf den entferntesten Inseln Internet-Anschlüsse bereitstellte! Oder Lettland das elektronische Grundbuch einführte, allderweil in den zuständigen Abteilungen an den Amtsgerichten zwischen Garmisch und Kiel noch Bleistift, Kuli und Radiergummi das Sagen hatten!

Das Experiment von Valmiera zeigt aber, daß es mit der damals angekündigten brave new world in der heutigen Praxis noch nicht so weit her ist. Dies hat den Berater von Premier A. Kalvitis, Arnis Pjatkins, freilich nicht daran gehindert, bereits die nächste Episode im lettischen Regierungs-Big-Brother anzukündigen: "Diesmal könnte die auswärtige Sitzung in ostlettischen Latgale stattfinden, in Rezekne oder Daugavpils".

Dann bis in drei Monaten (Diena und Neatkariga rita avize, 7. Februar)!

-OJR-



 
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