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NATO in Riga - Außer Spesen nix gewesen?
27.11.2006


Flüchtlingsströme verlassen die Stadt an der Daugava. "Landunter" melden die involvierten Agenturen: alle Flüge ins Ausland - proppenvoll, und selbst im unmittelbaren Umland ist kein Dach über dem Kopf zu haben. Durch die menschenleeren Straßen patroullieren schwerbewaffnete Männer. Die Geschäfte haben geschlossen, einige der verbliebenen Einwohner überlegen sich, die Fenster zu verbarrikadieren. Tierfreunde machen sich Sorgen um ihre geschuppten, gefiederten, zwei- und vierbeinige Lieblinge - wie werden sie die Trennung von Frauchen und Herrchen überstehen, besteht gar Lebensgefahr.

Was die Nordatlantische Verteidigungsallianz, besser bekannt unter dem Kürzel NATO, in den ganzen Jahren des Kalten Krieges nicht geschafft hat, vollbringt sie dieser Tage nun in Riga: die lettische Hauptstadt zu lähmen. Ein kurioses Ergebnis, wenn man sich daran erinnert, daß das Bündnis eigentlich dazu gedacht war, das gar nicht so ferne Moskau in Schach zu halten - und nicht die eigenen Mitglieder. Aber dazwischen liegt der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, da verschieben sich schon die Parameter. Zumal der NATO durch diese Ereignisse die ursprüngliche Geschäftsgrundlage entzogen worden ist. Und so dümpelt sie denn heutzutage etwas orientierungslos vor sich her. Daß sich nach dem Gipfel etwas daran ändern wird, steht aber nicht zu erwarten.

Zum Treffen in Riga werden die Geschichtsbücher zwar anschließend vermelden können, zum ersten Mal hätten die Beratung im ehemaligen Feindesland stattgefunden. Der Rest ist aber trotz aller Beteuerungen wenig dazu angetan, als historisch durchzugehen. Gerade deshalb erscheint auch der betriebene Aufwand umso unverhältnismäßiger. Ein gewaltiger Berg begräbt in seinen Geburtswehen die Metropole an der Daugava, und heraus kommt gerade mal ein Mäuschen.

Zumindest hat die gastgebende lettische Regierung Geistesgegenwart genug bewiesen und den Hauptstädtern wegen des Gipfels ein paar arbeitsfreie Tage gewährt. Das Volk hat es gerne gehört und Kurzurlaube reserviert, was die Buchungscomputer in den Reisebüros hergaben. Aber auch die Daheimgebliebenen werden von dem Spektakel nicht viel mitbekommen. Letzte Woche haben die Presseverleger der Baltenrepublik nämlich beschlossen, am 28. und 29. November erst keine Zeitungen erscheinen zu lassen - es sei nämlich nicht gewährleistet, daß die Angestellten der Druckereien ihren Arbeitsplatz erreichen könnten, von der anschließenden Distribution der Blätter ganz zu schweigen. Lettland fast im Tal der NATO-Ahnungslosen.

Schwieriges Thema Afghanistan
Andererseits: was gäbe es denn zu berichten? Bereits im Vorfeld ließ das Bündnis erkennen, daß etwaige Beitrittswünsche Georgiens und der Ukraine in Riga nicht zur Diskussion stünden. Und für den Fall, daß jemand dies vergessen haben sollte, erinnerten die kremltreuen russischen Medien in den letzten Tagen mehr als deutlich daran (s. die neuseeländische Sunday Times, 12. November)

Afghanistan dürfte hingegen ein Thema des NATO-Gipfels sein, tangiert es doch wie kein anderes das grundlegende Dilemma der Allianz: was tun, wenn es ebenbürtigen Gegner gibt wie weiland Moskau? Die Klagen der USA und Großbritanniens darüber, daß die deutschen Truppen im Norden des Landes ein aufbaumäßige "ruhige Kugel" schöben, während die Situation in der Grenzregion zu Pakistan andauernd militärisch auf der Kippe stehe, verstellen nämlich den Blick dafür, daß die NATO hier in einem assymmetrischen Konflikt verwickelt ist, wie er dem vermeintlich Stärkeren in jüngster Zeit kaum eine Chance zum Sieg läßt (Mannheimer Morgen, 17. November). Niemand weiß das besser als der Kreml, der sich in Afghanistan bereits eine blutige Nase geholt hat. Und auch Washington dürfte dies nach Vietnam kein Geheimnis sein, umso mehr als die gegenwärtige Mission der Willigen" in Irak in Blut und Terror unterzugehen droht.

Was liegt da näher, als neue Verbündete ins Boot zu holen. Und so sucht denn die einzige verbliebene Weltmacht ex Washington, die NATO auf eine verstärkte Zusammenarbeit mit Finnland und Schweden, aber auch pazifischen Mächten Australien, Südkorea und Japan festzulegen (so der stellvertretende US-Außenminister R. Nicholas Burns laut The Washington File, 3. November). Aber in dieser Form ist das weder Fisch noch Fleisch und hört sich ungefähr so überzeugend an wie der Versuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit einer "privilegierten Partnerschaft" der Türkei die Ambitionen auf einen EU-Beitritt auszureden. Hingegen spricht vieles dafür, daß George W. Bush mit dieser Initiative nach dem Wahldebakel der Republikaner Anfang November nicht nur seine dahinschwimmenden Felle zu retten, sondern auch die Verantwortung für das nicht mehr ganz auszuschließenden Debakel im Irak und Afghanistan auf möglichst viele Schultern zu verteilen sucht. Pfeifen im Walde also, Melodie - "Lahme-Ente-Tanz".

NATO auf Patrouille im Cyberspace
Da hat nicht nur Michele Alliot-Marie Bauchschmerzen. Anfang des Monats sprach sich die französische Verteidigungsministerin dagegen aus, die NATO "zu einer globalen Partnerschaft zu verwässern", die sich in "schlecht definierte Missionen" engagiere. Die Antwort kam postwendend. Victoria Nuland, US-Botschafterin beim Nordatlantischen Verteidigungsbündnis, umriß den Grundton für Riga: es ginge um eine Allianz, "die globale Verantwortung" übernehme, die zunehmend über "globale Fähigkeiten" verfüge, sich den entsprechenden "Herausforderungen" zu stellen, und dies in "Zusammenarbeit mit globalen Partnern" tue (AFP, 1. November).

Bei so viel Globalisierung ist es da geradezu konsequent, daß sich die NATO nunmehr in Gefilde vorwagen soll, die per Definition als schlechthin grenzenlos gelten: So soll die Allianz künftig auch gegen Terrorismus und Internet-Kriminalität kämpfen. Zudem könnte die Sicherung von Bodenschätzen mit auf der "To-Do-Liste" stehen, berichtet Spiegel online (24. November).

Moskau: NATO-Partner Großbritannien meuchelte NATO-Partner Lettland
Im übrigen: der Kreml hat zwar den Gipfel in Riga nicht verhindern können. Aber ein kleines Kuckucksei hat er dem Treffen doch ins Nest gelegt. Dazu veröffentlichte der russische Auslandsgeheimdienst SVR gerade rechtzeitig ein 400 Seiten starkes Dossier. Anhand von bislang nicht zugänglichen Dokumenten soll es unter anderem belegen, daß die USA und Großbritannien der Besetzung der baltischen Staaten - also auch Lettlands - durch die Sowjetunion 1940 zugestimmt hätten. Der Lettischen Presseschau liegt diese Kompilation nicht vor, doch Pressemeldungen zufolge soll beispielsweise Winston Churchill in seiner bekannt pragmatischen Art entschieden haben, Moskau die Okkupation der Ostseerepubliken nicht zum Vorwurf zu machen. Der britische Premierminister habe erkannt, daß "dies der einzige gangbare Weg" sei, deutet der Ersteller des Dossiers, General Lew Sotskow, die Aktenlage: "Er betrachtete ihn zwar nicht als einen sehr angenehmen, aber dennoch notwendigen Schritt, um Deutschland an weiteren Intrigen und Vorrücken zu hindern".

Vom Grundton paßt dies auch zu einer Aussage von W. Churchill aus dem Jahre 1939: es liege nämlich in "britischem Interesse, daß die UdSSR ihren Einfluß im Baltikum stärkt und dadurch das Risiko einer deutschen Vorherrschaft in diesem Raum mindert" (RIA Novosti und Interfax, 23. November; The Guardian, 24. November).

Man darf getrost bezweifeln, ob dieser aktuelle historiografische Einwurf tatsächlich dazu geeignet ist, ernsthafte Zwietracht zwischen den NATO-Altmitgliedern USA und Großbritannien einerseits und ihren neuen baltischen Verbündeten Estland, Lettland und Litauen andererseits zu säen. Immerhin hat die Nordatlantische Allianz inzwischen die meisten Hauptkontrahenten des 2. Weltkriegs unter ihrem Dach versammelt.

So wird denn auch in dieser Hinsicht eine Sensation in Riga ausbleiben.Die NATO wird sich vermutlich ein wenig im Cyberspace verlieren und ein wenig über den Kampf gegen einen amorphen internationalen Terrorismus räsonnieren, doch die durch und durch globalisierte große Bilanz wird lauten: Außer Spesen nix gewesen.

Politkorrekte Fäustlinge: das Kreuz mit dem Kreuz
Zurückbleiben werden die im Potemkinschen Stil frisch herausgeputzten Holzhäuser am Flughafenzubringer und so manche Anekdote. Zum Beispiel die von den 300 lettischen Kunsthandwerken, hauptsächlich Großmüttern, die für die 5 000 ofiziellen Gäste des Treffens als Begrüßungsgeschenk typische, mit traditionellen Mustern reich verzierte Fäustlinge stricken sollten. Die einzige Vorgabe aber - es durfte nicht das uralte Zeichen des Feuerkreuzes verwendet werden. Es sei nämlich zu befürchten, daß NATO-Delegierte es als Nazi-Hakenkreuz mißverstehen könnten (BBC, 20. August). Was natürlich übersieht, daß die lettischen Feuerkreuze meistens linksläufig sind

(http://www.liis.lv/majtur/darbmac/etnografija/ornamenti/ugunsk.htm ), das nationalsozialistische Hakenkreuz hingegen stets rechtsläufig (http://de.wikipedia.org/wiki/Swastika ). So viel zur Zielgenauigkeit der Nordatlantischen Verteidigungsallianz...

 

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