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Todeszüge auch nach Riga: Ausstellung in Münster
25.05.2008


Auf die Frage, was Deutschland und Lettland verbinde, fällt den meisten als erstes Stichwort dieStolperstein Demnig mittelalterliche Handelsvereinigung Hanse ein, vielleicht auch noch der Schwertbrüderorden und jahrhundertlange deutsche Herrschaft im Baltikum, gelegentlich auch die Aufklärer Johann Gottfried Herder und Garlieb Merkel. Schwieriger wird es schon mit dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der Estland, Lettland und Litauen letztlich über 40 Jahre von der Landkarte Europas tilgte. Aber den wenigsten ist bewußt, dass auch der Holocaust, die von den Nationalsozialisten geplante und betriebene Vernichtung des europäischen Judentums, eine Brücke schlägt zwischen den Ufern des Rheins und der Daugava.

Ein sogenannter Stolperstein" des Kölner Künstlers Gunter Demnig erinnert vor dem Haus Hermannstr. 48 in Münster an den jüdischen Jungen Julius Lentschützki, der 1941 nach Riga deportiert wurde und 1945 in Stutthof starb. Copyright Photo: Ojars J. Rozitis.

Im Winter 1941 setzten sich nämlich vor allem aus Nord- und Westdeutschland Züge in Bewegung, in denen Tausende von Juden nach Riga deportiert wurden, angeblich zum Arbeitseinsatz. Die Verschleppten erwartete hier ein jüdisches Ghetto, das die deutschen Besatzer mit tatkräftiger Unterstützung einheimischer Handlanger zuvor „geräumt“ hatten - durch Massenerschießung der Insassen im Wald von Rumbula vor den Toren der lettischen Hauptstadt. Aber auch für die allermeisten Neuankömmlinge bedeute die Deportation nach Riga die Vernichtung: von 24 605 Menschen erlebten gerade 1 073 das Ende des Krieges, schreibt der engagierte Historiker Matthias M. Ester.

Auch die Verschleppung der Münsteraner Juden wickelte die damalige Deutsche Reichsbahn ab, und wer die berühmte Shoah-Dokumentation von Claude Lanzmann gesehen hat, der weiß, dass das Unternehmen diesen und unzählige ähnliche Aufträge effizient und mit höchster bürokratischer Präzision erledigte, Hand in Hand mit den Betreibern des Holocaust. Im Bewußtsein geschichtlicher Verantwortung hat die Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn, die Deutsche Bahn AG, nun eine Wanderausstellung mit dem Titel Sonderzüge in den Tod erstellt. Ergänzt durch eine umfangreiche lokal- und regionalgeschichtliche Komponente, macht die Schau noch bis Mitte Juni im Hauptbahnhof Münster Station.

Broschüre Ausstellung Deportationszüge

 

Die schiere Unfassbarkeit des Judenmordes wirft immer wieder die Frage einer adäquaten Widerspiegelung auf. Was Münster angeht, schafft schon die Lokalität den Brückenschlag. Ausgangspunkt – die Eingangshalle des Bahnhofs: Menschengedränge, Reklametafeln, Imbiß-Stände, Lautsprecherdurchsagen. Um zur Ausstellung zu gelangen, muß man an den Schließfächern vorbei, links um die Ecke und dann steht man vor einem Durchgang, der in den Gepäcktunnel unter den Gleisen führt – merklich karger, düsterer, beklemmender als die beiden anderen, von den Fahrgästen sonst genutzten Passagen. Eine ganz andere Welt, nur durch eine Tür getrennt vom normalen, bunten Leben. Wer die Schwelle überschreitet, verschwindet gleichsam daraus.

Hauptsächlich um das Verschwinden der deutschen Juden aus dem normalen Leben (sofern man diesen Begriff  für den Nationalsozialismus überhaupt verwenden kann) geht es dann auch in der Ausstellung. Gegenüber dem eher akademisch gehaltenen allgemeinen Teil, der von der Deutschen Bahn AG verantwortet wird und in der alten Expreßguthalle am anderen Ende des Tunnels untergebracht ist, ist der von allen Fraktionen im Münsteraner Stadtrat sowie zahlreichen Gedenk-Initiativen getragene lokal- und regionalhistorische Teil im Tunnel selber beeindruckender.

Der Fokus richtet sich dabei auf zwei Transporte – den vom 13. Dezember 1941 nach Riga und einen weiteren vom 31. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt. „Letzte Fotos“ heißt eine Serie von Tafeln, die lebensgroß aus den schmuddeligen Wänden des Tunnels herausragen und die betroffenen Menschen porträtieren. Eine große Aufnahme sozusagen als Blickfang, ergänzt durch kleinere Fotos, Bildausschnitte, Erläuterungen, Bezügen zur Gegenwart, halt die „Geschichte hinter den Gesichtern“, wie M.M. Ester als einer der maßgeblich verantwortlichen Gestalter erläutert.

 

Deportationszug Münster in Bielefeld

Der Zug mit den deportierten Juden aus Münster erreicht am 13. Dezember 1941 den Bahnhof Bielefeld. Photo: Stadtarchiv Bielefeld

 

So abgeschieden die Welt dieses Tunnels aber sein mag – immer wieder bricht aber Leben in sie ein. Mal engagiert und sichtlich betroffen - Schulklassen aus dem ganzen Münsterland, mehr als 80 haben sich bereits angemeldet. Mal eher etwas unbeteiligt – wie die beiden feschen Radtouristinnen, die ihre Drahtesel per Lift vom Tunnel aus auf den Bahnsteig befördern möchten, oder der Mann vom gastronomischen Service der Deutschen Bahn AG, der mit seinem Kaffee- und Sandwiches-Wägelchen an Schautafeln vorbeiwieselt, die einen kleinen Zipfel des wohl größten Verbrechens des 20. Jahrhunderts dokumentieren.

Und allgegenwärtig: das gelegentliche Rumpeln von Zügen über den Köpfen. Eigentlich waren auch die verschleppten Opfer selbst auf ihrer letzten Fahrt auf erstaunliche Weise präsent. Wie der allgemeine Teil der Ausstellung an einem anschaulichen Beispiel belegt, mußten nämlich über jeden einzelnen Transport alle betroffenen Dienststellen entlang der Deportationsstrecke unterrichtet werden.

Andreas Determann von der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit in Münster, auch er maßgeblich für den regionalhistorischen Teil verantwortlich, schätzt die tägliche Besucherzahl bisher auf 300 bis 400. Dieses Interesse ist der Ausstellung auch weiterhin zu wünschen.

Sonderzüge in den Tod, noch bis zum 15. Juni. Geöffnet Mo-Fr, 9-18 Uhr, Sa-So, 10-18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Ein umfangreiches Begleitprogramm - Vorträge, Kulturveranstaltungen – ergänzt die Ausstellung. Weitere Infos unter www.deportationsaustellung.de.

 

-OJR-




 
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