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Das blau-gelbe antifaschistische Siegesdenkmal von Riga
26.02.2022


Die historischen Gründe für den Streit zwischen Russland und seinen Nachbarn

Farbanschlag auf das Siegesdenkmal im Uzvaras Park, Foto mit freundlicher GenehmigungKârlis Miksons / Latvijas Televîzija

Das war für jene, die an Putins Propaganda glauben, eine schwere Provokation: Am 25. Februar 2022, also einen Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, bestrichen Unbekannte in früher Morgenstunde das sowjetische Siegesdenkmal im Rigaer Stadtteil Pardaugava mit den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb. Die Aktion hatte nicht lange Bestand, denn schon am Nachmittag wurden die Farben wieder entfernt. Das graufarbene Siegesdenkmal, das in den 80er Jahren, also noch zu sowjetischer Zeit errichtet wurde, ist für die russische Minderheit des Landes das zentrale Identifikationsobjekt, wo sie alljährlich am 9. Mai den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland ausgelassen feiert. Lettinnen und Letten hingegen betrachten den im pompösen sowjetischen Betonstil gehaltenen Erinnerungsort als großes Ärgernis. Die fünfgliedrige Stele samt der pathetischen Steinfiguren, die sie umgeben, symbolisiert den fünfjährigen “vaterländischen Krieg”. Der Streit um das Denkmal ist aufschlussreich, um den historischen Hintergrund des schlechten Verhältnisses Russlands zu seinen Nachbarn im Westen zu ergründen, zur Ukraine, zu Polen und den baltischen Ländern.


“Slava Ukrainai!” war in blau und gelb zu lesen. Der Schriftzug “1941-1945” war ebenfalls mit den ukrainischen Farben befleckt (lsm.lv). Rigas Bürgermeister Martins Stakis appellierte über Twitter, solche illegalen Aktionen zu unterlassen und er kündigte an, dass in nächster Zeit hunderte Nationalflaggen der Ukraine in seiner Stadt wehen werden. Wegen eines internationalen Vertrags mit der Russischen Föderation ist Lettland verpflichtet, das Denkmal unverändert zu erhalten. Initiativen aus der Bürgerschaft, die an die Saeima appellierten, die Stele zu sprengen oder abzureißen, scheiterten, weil die lettische Republik dazu verpflichtet ist, internationale Verträge einzuhalten.  


Das, was für die lettische Mehrheit das Nationaldenkmal bedeutet, das sich in symmetrischer Position auf der anderen Seite der Daugava befindet, das stellt für die russischsprachige Minderheit das Siegesdenkmal dar. Hier sieht man häufig abgelegte Blumensträuße, die sich zur Zeit um den 9. Mai in einen wahrhaften Blumenteppich verwandeln. Für Russen ist dieser Tag seit Leonid Breschnews Zeiten der wichtigste politische Gedenktag des Jahres. Die Feier in Riga unterscheidet sich erheblich von den formierten und uniformierten Militärparaden, wie sie am selben Tag in Moskau stattfinden. In Riga ist es ein lockeres Volksfest mit einer Bühne für Rockgruppen, Imbissbuden, Militaria-Ständen und Alkohol.  


“Ist doch ein sympathisches Fest, das die Russen feiern, weshalb sind die lettischen Faschos, die das Denkmal als `Leichenfinger` beschimpfen, dagegen?” so fragte ich mich als vom Faschismus befreiter Westdeutscher nach meiner Ankunft in Riga vor mittlerweile zwei Jahrzehnten. Der Schriftzug “1941-1945” hätte mich irritieren und eines Besseren belehren können. Begann der Weltkrieg nicht 1939, und für Tschechoslowaken nicht bereits 1938? Das von Putin übernommene stalinistische Narrativ vom “Großen Vaterländischen Krieg” lässt diesen erst 1941, also mit dem Barbarossa-Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion beginnen. Die zwei Jahre davor entfallen also, als Stalin und Hitler paktierten und Osteuropa unter sich aufteilten. Leider verharmlost oder unterschlägt nicht nur die bolschewistische, von Putin übernommene Lesart, sondern auch manche dogmatisch-linke Interpretation noch heutzutage die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts (z.B. youtube.de). Nachdem die deutschen und sowjetischen Armeen die vereinbarten Gebiete erobert hatten, begann nicht nur für die Bevölkerung unter nazistischer Besatzung die fürchterliche Zeit. Auch unter dem bolschewistischen Regime litten Polen und Balten schwer. Das bekannte Massaker von Katyn ist nur ein Beispiel für das, was Stalins Tschekisten in diesen Ländern anrichteten, eine Herrschaft der Massenhinrichtungen und Massendeportationen in die sibirischen Gulag-Lager (vgl. youtube.de).


Letten betrachten es mit gemischten oder eher sogar ablehnenden Gefühlen, wenn Antifaschisten in ihrem Land demonstrieren. Das Wort “Antifaschismus” hat an der Daugava seinen ideologischen Klang behalten; die bolschewistischen Herrscher verwendeten den Begriff, um die eigenen Untaten und Kriegsverbrechen zu verschleiern. Dieser ideologische Missbrauch dient nun wiederum Lettinnen und Letten als Vorwand, “Antifaschismus” prinzipiell als sowjetrussische Propaganda zurückzuweisen, somit auch dem Vorwurf zu entkommen, mit den deutschen Besatzern kollaboriert zu haben, nachdem die Wehrmacht die Rote Armee aus dem Baltikum vertrieben hatte.


Wie entleert und deformiert der russische Begriff von Antifaschismus ist, zeigt sich gerade an Putins Jargon der “Entnazifizierung”, mit dem er den Angriff auf die Ukraine begründet, ein blutiger Höhepunkt der Realsatire. Diese recht spezielle Variante des Begriffs beinhaltet vor allem den imperialen Machtanspruch und Chauvinismus der russischen Führung.* Um so beachtlicher ist es, dass sich jetzt Saskana-Politiker, die hierzulande als Vertreter der russischsprachigen Minderheit gelten, von Putins Geschichtsauffassungen distanzieren und sich mit der Ukraine solidarisieren (LP: hier). Im lettischen Fernsehen distanzierte sich auch Dana Bjorka vom russischen Angriff. Sie leitet in Riga das russische Theater: “Die Bedrohung geht nicht vom russischen Volk aus, sondern von einem Menschen, der agiert und im Namen des ganzen russischen Volkes handelt und sogar fähig ist, alle Aufgeklärten zum Schweigen zu bringen, die imstande waren, aufzustehen und gegen ihn zu sprechen.” (lsm.lv) Ob solche Ansichten die russischsprachige Minderheit in Lettland repräsentieren, bleibt unklar; die Öffentlichkeit ist gespalten - Letten benutzen vorwiegend lettische Medien, Russen vorwiegend russische.


Jene Russischsprachigen, die sich gerade von Putin distanzieren, könnten nun lettischerseits unterstützt und beachtet werden. Doch lettische Politiker haben anderes im Sinn. Vor den Wahlen sei es für manche Parteien vorteilhaft, die ethnische Karte zu ziehen, bekannte einst Augusts Brigmanis als Fraktionsvorsitzender der Union der Grünen und Bauern. So schlug Bildungsministerin Anita Muizniece (Jauna Konservativa Partija) ein Tag nach dem russischen Überfall vor, an lettischen Schulen generell nur noch Lettisch als Unterrichtssprache zuzulassen; somit die Minderheitenschulen, an denen Unterricht noch teilweise in anderen Sprachen, insbesondere Russisch, stattfindet, de facto abzuschaffen (lsm.lv). Über das Für und Wider von Lettisch als einziger Unterrichtssprache lässt sich lange diskutieren; problematisch ist, dass hier die lettische Mehrheit über die Belange der russischsprachigen Minderheit befindet.


Die Sprachpolitik ist in den Ländern, in denen russischstämmige Minderheiten leben, eine heikle Angelegenheit. Als zwei Tage nach dem Maidan-Umsturz von 2014 das ukrainische Parlament beschloss, das Sprachgesetz aufzuheben, das in den östlichen Regionen Russisch als zweite Amtssprache zuließ, schürte das den Konflikt in der Donbass-Region, obwohl das Gesetz nicht in Kraft trat. Seit dem Ende der Sowjetunion leben Millionen Russen als Minderheiten in anderen Ländern. Der Kampf um ihre Rechte wird von der russischen Regierung unterstützt, die sie als Teil der “russischen Welt” betrachtet. Gute Integrationspolitik, die dem Frieden förderlich wäre, bedeutete, sich um die Belange der Minderheit zu kümmern und sich mit ihr über das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat zu verständigen.

*Diese Formulierung ist verändert. Sie bezog sich zuvor pauschal auf Russland.

Udo Bongartz

 

 

 

 




 
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