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Asja Lacis: “Revolutionär im Beruf”, Teil 4
07.08.2021


Die Scheuklappen

Die Schauspielerin Marija Leiko hatte in zahlreichen deutschen Stummfilmen und an verschiedenen deutschen Theatern Karriere gemacht, u.a. mit den Regisseuren Max Reinhardt und Friedrich Murnau. Nach der NS-Machtergreifung 1933 kehrte sie nach Lettland zurück, arbeitete 1937 im lettischen Theater Skatuve in Moskau, wurde vom NKWD verhaftet und erschossen, die Fotos zeigen Leiko vor und nach der Verhaftung: Saite

 

Hinter einem denkwürdigen Passiv verbarg Asja Lacis die Tatsache, dass sie, die doch von der kommunistischen Sache überzeugt war, selbst Opfer des sowjetischen Regimes wurde: “Ich wurde gezwungen, zehn Jahre in Kasachstan zu verbringen”1 Bis 1937 war sie in Moskau Regisseurin am lettischen Staatstheater “Skatuve” (Bühne), deren Angestellte Opfer des stalinistischen Terrors wurden. Im Rahmen “nationaler Operationen” verfolgte der sowjetische Geheimdienst NKWD viele tausend immigrierte Lettinnen und Letten, folterte, deportierte oder ermordete sie. Massenerschießungen gehörten zum sowjetischen Alltag. Die Skatuve-Angestellten wurden verhaftet, deportiert oder erschossen; dabei hatten sie sich um linkes Theater bemüht und Werke von Lacis` Gesinnungsfreunden wie Friedrich Wolf aufgeführt. Die Verfolgungen erfolgten willkürlich, bezweckten den blanken Machterhalt; Lacis hatte noch “Glück”, mit einem Jahrzehnt Deportation davonzukommen.  


Ihre Vorbilder und Gesinnungsfreunde traf es noch schlimmer: Psychiater Wladimir Bechterew, an dessen liberalem Institut in Sankt Petersburg Lacis studiert hatte, diagnostizierte bei Josef Stalin 1927 eine Paranoia; wenige Tage später fand man Bechterew tödlich vergiftet vor. Wladimir Majakowski, der futuristische Dichter, der für die sowjetische Sache agitiert hatte, erregte das Misstrauen der KP-Funktionäre; er beging 1930 Suizid. Die Aufführungen des experimentellen Regisseurs Wsewolod Meyerhold, der auch an der Piscator-Bühne in Berlin inszeniert hatte, waren ebenfalls nicht nach bolschewistischem Geschmack. Auch sein Theater wurde 1938 geschlossen, seine Frau ermordet, er selbst wegen angeblicher Spionage verhaftet, schwer gefoltert und hingerichtet. Ebenso fiel Lacis` lettischer Freund und Kampfgefährte, der Schriftsteller Linards Laicens, dem NKWD zum Opfer. Er wurde 1938 während der Verfolgungswelle der “nationalen Operationen” ebenfalls erschossen.



VOM KOMMUNISMUS ÜBERZEUGT


Ob Lacis im privaten Kreis Kritik am Stalinismus geübt hat, muss der Forschung überlassen bleiben, die ich hier nicht leisten kann; im zugrundeliegenden Buch dieses Artikels kommt sie zumindest nicht vor; wahrscheinlich hätte die sowjetische Zensur sie verhindert. Dass sie entschieden die kommunistische Idee verfocht, ist am folgenden Zitat über Diskussionen mit Walter Benjamin erkennbar:


“Oft spielte sich zwischen uns so oder ähnlich folgender Dialog ab: `Du bist gebildet, hast einen klugen Kopf, hast ein Spezialgebiet – und hast keine materielle Existenzgrundlage.` Walter schwieg. Ich fuhr fort: `In Riga ging es mir materiell auch nicht gut: Warum? Weil ich gegen den bürgerlichen Staat kämpfte, sonst hätte ich viel Geld verdienen können. Aber wo stehst du, Meister der Kultur? Dein Bruder ist in der Kommunistischen Partei! Warum du nicht?` Walter sagte: `Nun ja, du hast es ja sehr leicht.` Er sagte sogar: `Mit dir ist es wie mit einem Pferd, das Scheuklappen trägt. Es sieht nur geradeaus, und der Weg erscheint ihm gerade. Für mich ist das schwerer, komplizierter, ich muß noch an viele andere Sachen denken`”.2


Lacis konnte Benjamin nicht dazu bewegen, in die KP einzutreten. Benjamin war vor Dogmatismus gefeit. Er las Texte des deutschbaltischen Publizisten Carl Gustav Jochmann. Lacis erwähnt, dass er dessen “geistige Selbständigkeit, persönlichen Freimut und das konsequent fortschrittliche Denken” rühmte.  



UNSICHERE KANTONISTEN


Lacis rehabilitierte sich in der Tauwetter-Periode Nikita Chrustschows, wurde Regisseurin am Theater Valmiera in Nordlettland und trat der KP bei. Sie engagierte sich für jenes linke Theater, das nur halbwegs zum Konzept eines sozialistischen Realismus` passte und zu sehr Kunst war, um als Propaganda herzuhalten. Sie machte Brecht in der Sowjetunion bekannt. Dieser arrangierte sich zwar einerseits als Stalin-Preisträger mit den Machthabern der DDR und UdSSR, doch nach der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 fragte er mit verbitterter Ironie, ob sich die Regierung, die ihrem Volk nicht mehr vertraut, nicht ein anderes wählen sollte.  


Johannes R. Becher, der als Vorsitzender des Bundes proletarischer Schriftsteller auf bolschewistische Linientreue achtete, warnte Lacis schon Ende der zwanziger Jahre vor schlechtem Umgang:


“Einmal fand eine Besprechung im engen Kreise bei Becher zu Hause statt, anwesend waren einige proletarische Schriftsteller und Brecht. Zwischen Becher und Brecht entwickelte sich eine literarische Diskussion. Ich nahm für Brecht Partei. Becher rief mich in den Korridor und sagte aufgeregt: Was fällt dir ein?! Du kommst aus Moskau und unterstützt einen kleinbürgerlichen Schriftsteller. Und er sagte weiter: du bist in eine falsche Gesellschaft geraten: Brecht plus Benjamin.”3



FRAGWÜRDIGE GLEICHSETZUNG


Benjamin betrachtete Lacis als die gesellschaftliche Ingenieurin, die ihn an die Politik und an den Kommunismus heranführte, ohne ihn in einen überzeugten Bolschewisten zu verwandeln. Die Entwicklung in der UdSSR betrachtete er kritisch und hielt den dortigen Kommunismus für eine bloße Parole. Die stalinistische Realität glich tatsächlich in vieler Hinsicht der nationalsozialistischen: Furcht vor dem offenen Wort, vor willkürlicher Verhaftung, Folter und Hinrichtung; eine Einheitspartei, die sich anmaßte, das Volk zu vertreten; die Abrichtung der Bevölkerung in parteinahen Organisationen, Personenkult um die Mächtigen, Geschichtsfälschungen, sogar ähnliche pseudorealistisch-heroische Kunstkonzepte, positivistische Technokratie, Jugend im sportlichen Wettbewerb und Großprojekte, eingebettet in einem allmächtigen Staat der Polizei, des Militärs und der Geheimdienste samt angeschlossener Gefängnisse, Lager und Folterkeller. Schließlich gipfelte die Annäherung zwischen den angeblich verfeindeten Mächten im Hitler-Stalin-Pakt.


Dennoch ist die oftmals betriebene Gleichsetzung von Links und Rechts polemisch. Während der Nationalsozialismus die sozialen Hierarchien und Besitzverhältnisse (von “Arisierungen” abgesehen) unangetastet ließ und das uniformierte Design der “NS-Volksgemeinschaft” soziale Gleichheit nur vortäuschte, bedeutete die Enteignung der Kapitaleigner und Produktionsmittelbesitzer tatsächlich eine gesellschaftliche Umwälzung. Die exzessive Gewalt, die Bolschewisten dafür aufwendeten, diskreditierte Lenins Projekt allerdings von Anfang an.  


Handelte es sich beim Bolschewismus überhaupt um Kommunismus? Oder werden diese Begriffe absichtsvoll verwechselt ? Endeten überzeugte Kommunisten nicht selbst im Gulag-Lager? Gibt es zwischen totalitären Regimen keinen Unterschied? Die Gleichsetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus, mit rechtsradikalen Ideologien also, die schon vom Ansatz her kriminell sind, diese sogenannte Hufeisentheorie hat eine bestimmte Funktion im gesellschaftlichen Diskurs: Die emanzipatorische Idee einer sozial gerechten Gesellschaft ohne individuelle Kapital- und Machtkonzentrationen wird als skandalisiertes extremistisches Phantasma außerhalb der öffentlichen Debatte gehalten.


Die Skepsis gegenüber linken Ideen in Osteuropa ist allerdings nachvollziehbar, solange Anhänger und Verteidiger einer verklärten sowjetischen Vergangenheit sich ihres antifaschistischen Kampfes rühmen, aber die Millionen Leichen im eigenen Keller verharmlosen oder ganz verschweigen.  


UB

 

 

 

Quelle:  

Als PDF-Datei zu beziehen auf: Lacis_Asja_Revolutionaer_im_Beruf.pdf (monoskop.org). Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

1 S. 77

2 S. 50




 
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