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Rail-Baltica-Baustellen in der Rigaer Innenstadt
22.07.2022


Die geplante Eisenbahn hat auch militärische Bedeutung

Abriss des Handelszentrums “Titaniks” in der Rigaer Innenstadt, Foto: UB

Es sieht nach Stuttgart 21 aus: Kräne und Baustellen im Zentrum der Rigaer Innenstadt, am Hauptbahnhof. Allerdings sind die Bauarbeiten weniger umstritten und die Arbeiter graben keine Tunnel, sondern schaffen Platz für eine Eisenbahnstrecke in westeuropäischer Spurbreite. Nach Jahren der vagen Absichtserklärungen geht es nun mit der Rail Baltica sichtbar voran. Die Strecke wird in den nächsten Jahren die baltischen Länder mit Warschau und Berlin verbinden. Die Höchstgeschwindigkeit der Züge soll 240 km/h erreichen. Am Rigaer Hauptbahnhof müssen dafür einige Bauten weichen. Gerade wird das Handelszentrum “Titaniks” abgerissen, ein Betonblock, der erst Ende der neunziger Jahre entstanden ist und in den letzten Jahrzehnten vor allem als unkomfortables Parkhaus genutzt wurde.


Ein Vertreter der Firma, die damit beauftragt ist, die Rigaer “Titaniks” abzureißen, trauert der Architektur nicht nach. Guntis Aboltins-Abolins erklärte dem LSM-Journalisten Davids Freidenfels, dass, falls man die legendäre Titanic als architektonisches Meisterwerk betrachte, der hiesige Glas-Beton-Bau damit keine Ähnlichkeit habe, lediglich die Breite sei mit 28 Metern vergleichbar; dem Gebäude mit der rostroten Fassade zwischen den Glaszeilen, das Autofahrer wegen der schmalen und steilen Auffahrten ungern nutzten, scheint nicht gerade nostalgische Trauergefühle zu erregen. Aboltins-Abolins erläuterte, dass wegen der bebauten Umgebung eine Sprengung nicht infrage kam; daher wird es nun mit Baggern fetzenweise abgetragen (lsm.lv). Solche Bauarbeiten wirken sich auf den innerstädtischen Verkehr aus; die Straßenbahnlinie, die an der Baustelle vorbeiführt, ist gerade gesperrt. Die Bauleute haben zudem den Bootsverkehr auf dem benachbarten Stadtkanal im Blick: Wenn sich ein Boot mit Ausflugspassagieren nähert, werden die Arbeiten unterbrochen. Aboltins-Abolins hält die Abrissarbeiten für einen städtebaulichen Gewinn: “Für das kulturelle Umfeld wird es gewiss keinen Verlust darstellen. Es entsteht ein neuer, schöner Platz zwischen dem Kanalufer und der zukünftigen Eisenbahnlinie Rail Baltica.”


In nächster Zeit werden sich Autofahrer, Passagiere, Radfahrer und Fußgänger auf manche Staus und Umwege in der Innenstadt einstellen müssen. Die Rail-Baltica-Trasse muss an alten Bahnlinien entlang durch die Innenstadt geführt werden. Dafür wird ein Viadukt errichtet, für das die überdachten Haltestellen am Busbahnhof weichen mussten, die sich unmittelbar am Bahndamm befanden. Bei Regenwetter müssen Passagiere nun auf der anderen Seite des Geländes unter freiem Himmel auf den Bus warten. Agnis Driksna, Vorstandsvorsitzender der Rail Baltica AG, zeigt sich entschlossen, die Bauarbeiten trotz der Verteuerungen, die die Inflation bei den Baustoffen bereitet, zügig voranzubringen. Bald werde das Viadukt errichtet. “Da gibt es keine Alternative, man muss das fertigstellen.” Die Arbeiter sind rund um die Uhr beschäftigt, es werde mit Hochdruck gearbeitet. Driksna sucht nach neuen Bezugsquellen für Eisen, Holz und anderen Baustoffen, weil die Einfuhr aus Russland und Belarus jetzt untersagt ist. Im Interview mit Latvijas Radio offenbarte er, dass er die Verteuerungen erst im nächsten Jahr werde einschätzen können. Der Metallpreis schwanke beispielsweise; er könne an einem Tag um 50 Prozent steigen, am nächsten um 60 Prozent fallen; man dürfe nicht impulsiv auf jede Tagesstatistik reagieren. Die Berechnung, wie sich die Inflation auswirkt, werde kompliziert (lsm.lv). Nach bisherigen Planungen waren für die gesamte Rail Baltica 5,8 Milliarden Euro vorgesehen, von denen der größte Teil aus EU-Fonds stammt.


Dass sich die politischen Entscheidungsträger nun entschlossen zeigen, die Rail Baltica in den kommenden Jahren zu eröffnen, abschnittweise zwischen 2026 und 2030, hat nicht nur wirtschaftliche und touristische Gründe. Im Juni 2022 trafen sich Vertreter der Drei-Meeres-Initiative, ein Zusammenschluss zwölf östlicher EU-Länder, unter ihnen die baltischen Staaten, Polen und Österreich, zu einer Konferenz in Riga. Auch das Thema “Sicherheit” wurde erörtert, das im politischen Diskurs in letzter Zeit meistens Militärisches beinhaltet. Vertreter wiesen darauf hin, dass die Rail Baltica über die Suwalki-Linie führt. Hier grenzt Polen an Litauen, eingeschnürt vom Kaliningrader Gebiet und Belarus. NATO-Generäle halten diese Enge in einem Konflikt mit Russland für schwer zu verteidigen. Die Rail Baltica ermöglicht schnellere Transporte von Kettenfahrzeugen, die dann nicht umständlich zwischen verschiedenen Spurbreiten umgeladen werden müssten. Ein anwesender britischer Eisenbahnexperte ließ sich mit den Worten zitieren: “Die Sicherheit ist stets in Betracht zu ziehen, auf verschiedene Weise in unterschiedlichen Projekten. Aber ich denke, dass im Baltikum das besonderen Anklang findet, denn hier ist Russland nebenan, dass sich schrecklich und aggressiv verhält. Das Projekt hilft bei der gesamten Planung von Ausnahmezuständen. Bei der Entwicklung solcher Projekte wird auf der ganzen Welt über solche Aspekte nachgedacht, doch ich habe nirgends eine Situation erlebt, wo dies so akut und wichtig wäre wie hier.” (lsm.lv)


Udo Bongartz 




 
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