Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Die Burschen von Dorpat
06.02.2021


Wie es in der baltischen Universitätsstadt zuging

Mensur der Landsmannschaft Livonia in Dorpat, Foto: Neaizsargâts darbs, Saite

Ob Corpsstudenten oder Burschenschafter, die allermeistens männlichen Mitglieder einer studentischen Verbindung gelten heutzutage im besten Fall als unpolitisch oder liberalkonservativ, im schlimmsten Fall als rechtsradikal. TV-Dokumentationen berichten darüber, wie eng manche dieser Organisationen in Österreich mit der FPÖ und in Deutschland mit der AfD verbunden sind (z.B.: youtube.de). Im 19. Jahrhundert gehörten die Burschen der deutschen Universitätsstädte zum liberalen und progressiven Teil der bürgerlichen Nationalbewegung, die gegen autoritäre Fürstenherrschaft protestierte und die deutsche Einheit proklamierte.  


Allerdings forderte die ausgrenzende Fixierung auf das ethnisch Reine schon damals personellen Tribut: Heinrich Heine, jüdischer Herkunft, wurde wegen der antisemitischen Orientierung der Göttinger Burschenschaft 1820 ausgeschlossen, weil Juden derart beschaffen seien, dass sie “kein Vaterland haben und für unseres kein Interesse haben können,” es sei denn, sie wollten sich “christlich-deutsch für unser Volk ausbilden”, wie es die Verfassung des allgemeinen Burschentags bestimmte (burschenschaftsgeschichte.de).


Der Soziologe Norbert Elias hob weniger die politische als die soziale Bedeutung studentischer Verbindungen hervor: Wer in die Oberschicht aufsteigen wollte, musste einer “satisfaktionsfähigen Gesellschaft” angehören, also eines Vereins, einer Organisation, in der es Ruhm und Ehre notfalls im Duell zu verteidigen galt. Für Studenten war die Mitgliedschaft in einer bierseligen und schlagenden Verbindung daher bedeutsamer als das Studium selbst.  


Studentische Verbindungen sind ein Phänomen der deutschen Kulturgeschichte. Burschen mit “Deckel” (Kappe) und in farbigem “Vollwichs” (Uniform einer Verbindung) fanden sich auch im deutschbaltischen Gebiet, in der livländischen (heute estnischen) Universitätsstadt, die die Deutschen Dorpat, die Letten Terbata und die Esten Tartu nennen. Wie sich in dieser das Studentenleben zwischen 1802, dem Gründungsjahr der dortigen Kaiserlichen Universität und 1918, dem Ende des Zarenreichs gestaltete, darüber hat Reet Bender einen ebenso informativen wie unterhaltsamen Überblick geschrieben, der aus gedruckten Lebenserinnerungen deutschbaltischer Akademiker zitiert und resumiert.1


Der Zar erlaubte die Gründung der Dorpater Hochschule, nachdem er zuvor das Studium im westeuropäischen Ausland untersagt hatte. Er fürchtete, dass die jungen Akademiker revolutionäre Ideen, die sich vor allem die Franzosen ausgedacht hatten, in sein Reich importieren könnten. Doch auch gegen das studentische Treiben in Dorpat hatte die Petersburger Regierung Vorbehalte. Studentische Verbindungen waren bis zur Jahrhundertmitte illegal, wurden aber von der Universitätsleitung geduldet. Die Corps waren nach Landsmannschaften gegliedert, ein Student aus der nordestnischen Ostseeprovinz gehörte der Estonia, einer aus der livländischen der Livonia an, die Verbindungen vermehrten sich bis 1918 auf “47 deutsche, polnische, russische, jüdische,

lettische, litauische, estnische, ukrainische und sogar armenische studentische Organisationen, vor allem Korporationen”.2


Aus den Lebenserinnerungen geht hervor, dass sich die deutschbaltischen Akademiker mehr ihres Daseins als Corpsmitglied denn als Student im Hörsaal entsinnten. Sie loben, dass in den geselligen Runden die Standesunterschiede schwanden. Vor Bierkrug und Paukant (Fechtgegner) waren eben alle gleich. Bender zitiert dazu ein Livonia-Mitglied, den Schriftsteller Siegfried von Vegesack: „Noch eines muß betont werden: es gab innerhalb der Korporation keine Standesunterschiede. Ob man zum Adel oder zum Bürgertum gehörte, das war völlig gleichgültig. Man war ‚Livone‘, man war ‚Bursch‘ – sonst nichts. Ja, das Prädikat ‚von‘ wurde überhaupt nicht ausgesprochen, der Name – meist nur der Spitzname – genügte. […] Auch der Geldbeutel spielte bei uns keine Rolle. Jeder wurde nur nach seinen charakterlichen Eigenschaften beurteilt. Duckmäusertum, Arroganz, Kniggerigkeit und Feigheit waren verpönt, wer dummdreist auftrat, wurde aufgezogen und unbarmherzig verspottet. Hier, im Dorpater Studentenleben, das keine Standesunterschiede kannte, wurde der Grund gelegt für die vielfachen Duz-Freundschaften, die den Gutsbesitzer mit dem Pastor und dem Doktor für’s Leben eng miteinander verbanden.“3 Die Gleichmacherei betraf allerdings nur jene wenigen, deren Eltern es sich überhaupt leisten konnten, den Nachwuchs an die Universität zu schicken. So standen die Söhne der adeligen Oberschicht und der bürgerlichen “Literaten”, also jenen Prädikatslosen, die trotzdem an einer Hochschule studiert hatten, im engen und freundschaftlichen Verhältnis; beide Schichten einte ihre Satisfaktionsfähigkeit.


Die Erinnerungen Eduard von Dellingshausen bestätigen Elias` These, dass die Mitgliedschaft in einer Verbindung der Vorrang vor dem Studium gebührte: „Vor allem lockte in Dorpat die grüne Mütze, das grün-violett-weiße Band der Estonia. Einen besonderen Wissensdrang verspürte ich nicht. Durch meinen Vater war das Interesse für die Naturwissenschaften geweckt worden, so entschloß ich mich denn für das Studium der Physik. Im dritten Jahr wollte ich ernstlich mit dem Studium beginnen – die geistvollen Vorträge Arthur von Oettingens hatten mein bereits für das gewählte Fach vorhandenes Interesse geweckt – da häuften sich aber die mir von der Korporation

übertragenen Ämter […]. Mein Vater, dem ich die Frage zur Entscheidung vorlegte, war der Ansicht, ich solle die Wahl zum Senior annehmen. Die Erfüllung dieser Aufgaben würde mir eine gute Vorschule für etwa später im Landesdienst zu bekleidende Ämter sein und mehr nützen als das Studium der Physik, das, wie mein Vater schon lange, früher als ich selbst, erkannt hatte, mich nicht genügend interessierte, um es als Lebensziel anzusehen. Ich sollte nur noch ein Semester in Dorpat bleiben und dann nach Deutschland gehen, um meine Allgemeinbildung zu erweitern.”4


Das Städtchen Dorpat beschreiben die ehemaligen Studenten recht unterschiedlich. Das “Heidelberg des Nordens” galt nicht gerade als architektonische Perle, manche beklagten seine Provinzialität. Herbert von Blanckenhagen aber schätzte gerade das menschlich Vormoderne: „Ganze Straßenzüge bestanden damals noch aus schlichten ein- oder zweistöckigen Holzhäusern, die im Gegensatz zu der monotonen Gleichgültigkeit städtischer Mietskasernen das Gesicht persönlicher Privatwohnungen trugen. Viele moderne Großstädte haben ihren eigenen Menschentyp herausgebildet, im alten Dorpat aber prägte noch der Mensch das Wesen der Stadt.”5


Das Menschlich-Allzumenschliche wurde mit der üblichen Doppelmoral verrichtet, in “Trans-Embach”, also in Dorpats Vierteln jenseits des städtischen Flusses, lagen die Spelunken und die Örtlichkeiten, die zum vorehelichen Geschlechtsverkehr luden; Orte, die in den Lebenserinnerungen meistens verschwiegen wurden. Angeblich herrschte Sittenstrenge “wie im Victorianischen England”. Sittlichkeit ist häufig nur zur Schau gestellte Bigotterie; es kommt nur darauf an, sich nicht erwischen zu lassen. Nur wenige berichteten von den “Gefahrenquellen”, die in Trans-Embach verborgen lagen. Das Nachsehen hatten vor allem die Prostituierten, deren Tätigkeit geächtet war, während ihre jungen Kunden sich “die Hörner abstießen”, wofür man in männlicher Gesellschaft ein gewisses süffisantes Verständnis aufbrachte.  


Die Heiratskandidatinnen lernten die Burschen beim Tennisspiel kennen, so dass Wilhelm Schlau die Funktion dieses Sports in folgender Frage andeutete: „Spielt Ihr Fräulein Tochter noch Tennis oder ist sie schon verlobt?”6 Stehen die Herren im Verdacht, den äußerlichen Reizen des weiblichen Geschlechts besinnungslos zu verfallen, so unterstellt man den Damen, dass sie nur von ranghöchsten Männchen frohlockt werden möchten - sehr zum Verdruss der Dorpater Handwerker. Die Streitigkeiten der Studenten mit Handwerksgesellen hatten am Embach Tradition. Emil Anders berichtete, dass junge Dorpater Handwerksmeister sich in anderen Städten umschauen mussten, “weil die Dorpater Handwerkstöchter auf studierte Heiratskandidaten rechneten”.7


Die deutsche Burschentradition hatte großen Einfluss auf die Entstehung estnischer und lettischer Nationalbewegungen, die 1870 mit den Gründungen der Dorpater Verbindungen Societas Studiosorum Estonorum und der Lettonia ihren akademischen Anfang nahmen. Auch estnische und lettische Burschen präsentierten sich im Vollwichs-Design und latinisierten ihr Vokabular. So wie deutsche Burschen ein Jahrhundert zuvor gegen Napoleon kämpften, riskierten lettische und estnische Studenten ihr Leben für unabhängige Nationalstaaten. Zur Schattenseite der lettischen Burschenschaftsgeschichte gehört, dass die Anführer des Arajs-Kommandos, das sich während der deutschen Besatzung an den SS-Massenerschießungen beteiligte, sich größtenteils aus Lettonia-Mitgliedern rekrutierte.


Heutzutage bilden die Studenten, die Mitglieder von Verbindungen werden, eine kleine Minderheit an den deutschen Hochschulen. Nicht einmal ein Prozent der Studierenden ist derart organisiert. Schlagende Korps, Burschenschaften, Landsmannschaften und nichtschlagende katholische Verbindungen locken mit billigen Zimmern in bester Lage. Der Kontakt zu den “alten Herren”, den ehemaligen Studenten, die lebenslänglich Mitglied bleiben, begünstigt Karrieren in Politik und Wirtschaft. In Lettland waren Korporationen während der sowjetischen Besatzung verboten; Exilletten gründeten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland neue, z. B. die Fraternitas Imantica in Pinneberg. Nach der lettischen Unabhängigkeit wurden die alten Korporationen neu gegründet, inzwischen sind wieder zwölf Verbindungen aktiv.


Reet Bender liefert ein anschauliches Sittengemälde vom studentischen Treiben in Dorpat. Wer sich weiter vertiefen möchte, findet viele Quellenhinweise. Der Text ist kostenlos auf academia.edu erhältlich.

UB

 

Quellenangabe:

1Reet Bender: Das studentische Dorpat in deutschbaltischen Lebenserinnerungen, in: Deutschbaltisches Jahrbuch, Bd. 62, 2014, S. 35-62

2ebd. S. 41

3ebd. S. 43

4ebd. S. 60

5ebd. S. 46

6ebd. S. 51

7ebd. S. 56

 


 
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