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Stamerienas Pils (Schloss Stomersee): Wo Alexandra von Wolff-Stomersee und Giuseppe Tomasi di Lampedusa wohnten
16.01.2021


Der Ort einer deutschbaltisch-italienischen Liebesgeschichte als lettischer Touristenmagnet

Schloss Stameriena vor der Sanierung, Foto: Olli Lehtonen, Eigenes Werk CC BY-SA 3.0, Link

“Ereignisse, Liebesgeschichten, welche diesen Ort schon seit alten Zeiten umgeben, sprechen für sich. Dies ist eine Perle, die seit Jahrhunderten im Glanz erstrahlt. Wir, die Menschen des Kreises, sind stolz, ein solches Schloss zu haben! Es inspiriert zur Liebe, zur Freundschaft, Eintracht und ermutigt uns gewiss, große Dinge zu tun,” mit diesen überschwänglich klingenden Worten beschrieb Normunds Audziss, Vorsitzender des Kreises Gulbene im Nordosten Lettlands, die größte Sehenswürdigkeit seiner Region bei ihrer feierlichen Wiedereröffnung Anfang Dezember 2019, nachdem Dach und Fassade saniert worden waren (dzirkstele.lv). Schloss Stameriena (Stomersee) beherbergte in den 30er Jahren ein Paar, das besonders in Italien bekannt wurde: Den Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa und seine deutschbaltische Ehefrau, die Psychoanalytikerin Alexandra von Wolff-Stomersee.


Vielleicht war es die Herkunft aus vergleichbaren Verhältnissen, die den Mann aus dem tiefen Süden und die Frau aus dem hohen Norden vereinte: Beide entstammten dem Adelsstand, der durch die aufkommenden Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert seine Macht eingebüßt hatte. Alexandra war bereits durch ihre Mutter mit italienischer Kultur vertraut: Der Sängerin Alice Barbi, die in Modena geboren wurde und am Ende ihrer Karriere Baron Boris von Wolff-Stomersee geheiratet hatte; er war Alexandras Vater, der 1917 starb. Drei Jahre danach heiratete die Witwe in London den italienischen Botschafter Pietro Tomasi della Torretta, der letzte Nachkomme der Lampedusas in männlicher Linie. 1925 lernte Alexandra in der Stadt an der Themse Pietros Neffen kennen, eben Giuseppe. Sie heiratete ihn 1932 in Riga, nach orthodoxem Ritus. Er war ihr zweiter Ehemann, ihr erster hatte sich als homosexuell erwiesen. Leider sind Verwandtschaftsbeziehungen immer recht komplex und stilistisch langweilig.


Zunächst suchte das Paar sein Glück im sonnigen Palermo. Aber weil Alexandra sich nicht mit ihrer Schwiegermutter verstand, bezogen die beiden in den dreißiger Jahren die Gemächer des Schlosses Stomersee. In Lettland geht das Gerücht um, dass die Atmosphäre des im 19. Jahrhundert errichteten Baus Giuseppe zu dem Roman inspiriert habe, der ihn posthum berühmt machen sollte: Der Gattopardo. Bis zu diesem Lebenswerk, an dem Giuseppe lange Jahre in den Straßencafés von Palermo gesessen und es erst im Alter von 60 Jahren vollendet hat, soll der Autor nie etwas veröffentlicht haben. Er suchte in seinen letzten Tagen vergeblich einen Verlag, der erst 1958, ein Jahr nach seinem Tod, gefunden wurde. Das Buch erwies sich schnell als Verkaufserfolg und es gilt heutzutage als ein Hauptwerk der italienischen Literaturgeschichte.  


Auch Giuseppes Frau wurde eine prominente Person und das schon zu ihren Lebzeiten. Sie gilt als erste Psychoanalytikerin, die in Italien tätig war. Alexandra hatte Sigmund Freud persönlich kennengelernt und studierte danach am Berliner Psychoanalytischen Institut Karl Abrahams. Im Zweiten Weltkrieg verlor sie Stomersee an die sowjetischen Besatzer und emigrierte 1942, als die Deutschen in Lettland eingefallen waren, nach Rom, wo sie Mitglied der Società Psicoanalitica Italiana wurde; später lebte sie mit ihrem Mann in Palermo und schrieb für die Rivista di Psicoanalisi. Sie schrieb Bücher zur psychoanalytischen Diagnostik, zur Aggression bei Perversionen, zur Nekrophilie und - im Zeitalter Donald Trumps besonders aktuell: zum Narzissmus. Sie führte den Begriff „Borderline-Störung“ in die Psychologie ein.


Die Gemeinde Gulbene, etwa 180 Kilometer von Riga entfernt, ist seit einigen Jahren Besitzerin des Schlosses, das um 1850 im neogotischen Stil errichtet und zwischen 1870 und 1880 im Stil der Neorenaissance umgestaltet wurde. Das stattliche Gebäude befand sich lange im maroden Zustand: Die Fassade blätterte und das Dach aus Zementziegeln war undicht. Diese stammten noch aus den Sanierungsarbeiten der Zeit nach 1905. Damals setzten die Revolutionäre auch Stomersee in Brand. Nach der Agrarreform von 1920, als die lettische Regierung deutschbaltischen Adelsbesitz weitgehend enteignete, durfte die Familie Wolff ihren Herrensitz aber offenbar behalten, weil sie sich wahrscheinlich nicht an Kämpfen gegen die lettische Armee beteiligt hatte. Nach der sowjetischen Besatzung 1940 beschlagnahmten die neuen Machthaber die feudale Anlage, um hier Büros und Unterrichtsräume für landwirtschaftliche Institutionen unterzubringen.


Die bisherigen Sanierungsarbeiten der Außenfassade, des Balkons, der Pergola sowie des Dachs kosteten über eine Million Euro und wurden teilweise mit Mitteln des Regionalen Entwicklungsfonds der EU finanziert. Die Gemeinde hatte beschlossen, das Dach wieder mit Naturschiefer zu belegen, dies entspricht dem Originalzustand vor 1905. Zur feierlichen Wiedereröffnung kam Juris Dambis, der Leiter der Verwaltung des Nationalen Kulturerbes. Er hält die Bewahrung historischer Architektur für ein Zukunftsprojekt: „Nur indem wir Ursprüngliches bewahren, können wir den kommenden Generationen kulturhistorische Werte übergeben und zwar solche, die eine besondere Stimmung erzeugen, die es uns erlauben, von der Geschichte angerührt zu werden.“


Zur besonderen Stimmung gehört auf Stameriena das deutsch-italienisch-lettische Flair. Dieses lockte auch den derzeitigen italienischen Botschafter Stefano Maria Taliana de Markio bereits zu zweimaligem Besuch in der ostlettischen Provinz (dzirkstele.lv). Er erschien nicht nur zur Wiedereröffnung, sondern auch am 1. Oktober 2020, um im Schloss der Buchpräsentation Ilze Lecinskas beizuwohnen, die eine Biographie über Guiseppe Tomasi di Lampedusa geschrieben hat. Er nutzte die Gelegenheit, um mit örtlichen Vertretern über eine zukünftige Zusammenarbeit zu sprechen. Es gibt Pläne, auf Stameriena eine Bibliothek mit italienischer Liebesliteratur einzurichten, italienische Filmtage zu veranstalten. Dem Botschafter gefiele es, zu jeder Jahreszeit italienische Wochen zu veranstalten, in denen Mode und Kunstwerke präsentiert, italienische Küche serviert werden könnten. De Markio will sich zudem darum kümmern, Stameriena in seiner Heimat bekannter zu machen. Gulbene soll mit Palma di Montechiaro auf Sizilien kooperieren, wo sich viele Szenen des Gattopardo ereignen. In der örtlichen Schule des sizilianischen Orts befindet sich ein Saal, der nach Alexandra von Wolff benannt ist. An der Wand ist ein Bild des Schlosses Stameriena zu sehen.  


Doch bevor Stameriena sich zum Touristenmagnet entwickelt, muss es auch im Inneren umfassend saniert werden. Die Gemeindevertreter erwägen, für Übernachtungen Zimmer im italienischen Stil einzurichten und hoffen auf Hochzeitspaare als Kundschaft. Die Regionalzeitung Dzirkstele hofft, dass zukünftige Touristen nicht nur zum Schloss fahren, um schnell dessen Räume zu durcheilen, sondern sich ihnen die Möglichkeit des Genießens bietet: Des Ortes, seiner Umgebung und seiner kulturellen Wertigkeit.

 

UB

 


      Atpakaï