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Die Ansprache des lettischen Staatspräsidenten Raimonds Vejonis zum 99. Jahrestag der Staatsgründung
19.11.2017


Lettland soll vom schüchternen Nehmer zum aktiven Geber werden

Vejonis AnspracheDer 18. November, der Feiertag der lettischen Staatsgründung, ist für den lettischen Präsidenten ein anstrengender Tag, er muss sich an Empfängen beteiligen, Orden verleihen und Reden halten. Am Abend wird seine Ansprache am Nationaldenkmal live in die Wohnzimmer übertragen. Raimonds Vejonis, der seit zwei Jahren das oberste politische Amt der lettischen Republik ausübt, erinnerte die Bürger an den dornigen Weg zum souveränen Staat (president.lv). Zur Zeit der sowjetischen Okkupation sei es gefährlich und verboten gewesen, die Nationalhymne "Dievs, sveti Latvija!" zu singen. Heutzutage könne man dies sicherer als jemals tun. Denn die Letten seien imstande, das eigene Land zu beschützen. Dennoch stellt er an seine Landsleute einige Forderungen und formuliert für das nächste Jahrzehnt ein ehrgeiziges Ziel.

Raimonds Vejonis am 18.11.17 bei seiner Ansprache am Nationaldenkmal, Foto:  Toms Kalnins, Latvijas Valsts prezidenta kanceleja

 

Bürger sollen sich an einem offenen und vielfältigen Europa beteiligen

Für ein langlebiges Lettland müssten die Bürger die Zukunft gestalten. Am wichtigsten sei die Frage, was in den nächsten zwanzig, dreißig und hundert Jahren geschehen werde. Die Zukunft gehöre den Kindern und Enkelkindern. Das Wertvollste, was man ihnen geben könne, sei eine gute Bildung. Vejonis ermuntert, auf dem Weg zur Wissensgesellschaft voranzuschreiten. "Wir unterstützen jene, welche derzeit für eine würdige Bildung in der Zukunft kämpfen. Dafür, dass Kinder mit Freude zur Schule gehen und für den morgigen Tag bereit sind.“ Die lettischen Lehrerverbände, die gegen die Prekarisierung ihres Berufsstands kämpfen, werden die Worte vernehmen (LP: hier). Dann kommt der Präsident auf Europa zu sprechen und formuliert ehrgeizig: "Wir sind ein europäisches Land, doch auch hier gibt es viel zu tun. Um Teil des aktiven Europas zu werden, müssen wir uns bereits im nächsten Jahrzehnt von den Nehmern zu den Gebern entwickeln. Von den schüchternen Neumitgliedern der EU zu ihren weitsichtigen Gestaltern." Die lettischen Bürger sollen sich an einem offenen und vielfältigen Europa beteiligen, deren Demokratie der übrigen Welt ein Beispiel gebe. Wie weit und steinig der Weg zum aktiven Gestalter werden dürfte, zeigen die Zahlen. Bedeutet die Ankündigung des Präsidenten etwa, EU-Nettozahler werden zu wollen, dann war Lettland nach Eurostat-Angaben 2015 noch weit entfernt davon: Der Saldo war pro Einwohner mit 382,4 Euro tief im Plus. Nur Ungarn, Slowakei, Griechenland und Tschechien wurden noch mehr aus EU-Kassen unterstützt, die beiden baltischen Nachbarländer erhielten deutlich weniger. Pro Kopf berechnet war nicht Deutschland, sondern Schweden mit minus 225,7 Euro der größte Nettozahler (bpb.de).

Plartz vor dem Nationaldenkmal

Während der Ansprache war der Platz vor dem Nationaldenkmal mit vielen Zuschauern gefüllt, Foto: Toms Kalni?š, Latvijas Valsts prezidenta kanceleja

Zweifelhafte Marktöffnung

Damit Vejonis` Vision Wirklichkeit werden könnte, müsste sich in der europäischen Politik so einiges ändern. Bislang ist das hehre Ziel, die Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten anzugleichen, lediglich ein Thema für Sonntagsreden. Nettoempfänger von Brüsseler Zahlungen zu sein, reicht bei weitem nicht aus, um den Abstand zu den alten EU-Ländern wesentlich zu verringern. Die lettische Bevölkerung erwirtschaftete im Jahr 2016 pro Kopf ein BIP von 12.800 Euro – und dies ziemlich ungleich verteilt (LP: hier). Das ist weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts von 29.000 Euro (zum Vergleich: Deutschland 38.100 Euro, Österreich 40.400 Euro, Irland 58.800 Euro und Spitzenreiter Luxemburg 90.700 Euro (lsm.lv). Kern des Problems ist der Produktivitätsrückstand der osteuropäischen Länder. Dies ist keine Frage mangelnder Bildung oder fehlenden Fleißes. Lettland hat zu wenig Kapital, um sich jene Infrastruktur, Maschinen und Roboter anzuschaffen, welche den Letten ähnliche Löhne ermöglichten, die in Westeuropa Standard sind. Dieses Kapital im Wettbewerb um die niedrigsten Steuern anzulocken, ruiniert die Sozialstaaten und war bislang nicht hinreichend erfolgreich. Dass Staaten ohne Zollschutz keine eigene konkurrenzfähige Produktion aufbauen können, wusste bereits der Ökonom des Freihandels, Friedrich List, im 19. Jahrhundert. Ivars Godmanis, ehemaliger Ministerpräsident und EU-Abgeordneter, ein eher wirtschaftsliberal denkender Politiker, erklärte im Streit um Agrarsubventionen im Jahr 2011 seinen westlichen Kollegen, weshalb deren Länder Nettozahler sind: Die Osteuropäer hätten zum Vorteil der Westeuropäer die eigenen Märkte geöffnet, den Kapital-, Handels- und Arbeitsmarkt. Wirtschaftlich weiter entwickelte Länder könnten dadurch ihren Wohlstand vermehren. Doch die Marktöffnung müsse auch für die neuen EU-Mitgliedstaaten vorteilhaft sein. Godmanis drohte damals mit Handelsbeschränkungen, wenn der Freihandel seinem Land keinen Nutzen bringe (LP: hier).

 

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